22. Dezember 2005

Aufklärung der Aufklärung

 

Horror, Porno, Heavy Metal. Genres, nicht unbedingt nach jedermanns Geschmack. Tagtäglich erreichen uns schon genug Gewalt- und Schreckensmeldungen via Medien, Pornografie überschwemmt uns in Anzeigen und im TV-Spätprogramm, ganz zu schweigen vom unerträglich martialischen Gehabe mancher Metal-Musiker. Warum also sollte man sich mit Genres beschäftigen, die nicht umsonst ausschließlich als Sparten für Subkulturen gelten?

 

Weil es aufklärt und Spaß macht, ist die Antwort Dietmar Daths, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sieben Romane, drei Sachbücher und unzählige Artikel geben Zeugnis von Daths Faszination für das Unschöne, Brutale, Eklige, Verstörende, Fantastische, aber auch für die Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft ab.

 

Anfang des Jahres erschien sein Opus magnum „Für immer in Honig“ im extra dafür gegründeten Implex-Verlag. Ein fast 1000-seitiger Revolutions-Epos, in dem Tote aus ihren Gräbern steigen, Werwölfe gegen Menschen kämpfen, amerikanische Bomben die islamische Welt platt machen, so genannte W mit übernatürlichen Fähigkeiten Neonazis den Krieg erklären. Fiktive Figuren, entlehnt aus dem Comicuniversum wie Buffy, the Vampire Slayer, treffen auf nur zaghaft verfremdete Personen aus unserer realen politischen und kulturellen Landschaft wie Hillary Clinton und Diedrich Diederichsen.

 

Dietmar Daths literarischer Kosmos, in den er uns entführt, spart kaum ein Phänomen aus. Marxismus, Neoliberalismus, Terrorismus, Kunst, Kulturindustrie, Drogen, Mathematik, Science-Fiction, Musikjournalismus, Verschwörungstheorien – alles kommt vor. Dass bei solch einer Fülle an Diskursen und intelligenten Bezügen selbst Splatter-Romane aufklärerisch wirken können, ist keine Frage. Und Spaß macht die Lektüre von Daths Romanen allemal. Geistreich, manchmal ironisch, meist aber mit revolutionär-aufklärerischem Pathos kontrastiert er Fantasy-Szenarios mit der Realität, mit zeitgenössischen Themen und aktuellen Medienereignissen.

 

„Popkunst plärrt uns aus den falschen Gründen die Ohren voll“, schimpft Dietmar Dath gegen die falsche Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur. „Dieter Bohlen ist nicht komplex“, Daths Romane dagegen schon. Klassische Maßstäbe der Kritik gelten für den selbst ernannten Rationalisten immer noch. Etwas muss gut sein, wach machen, um Dath und seinen Lesern zu gefallen.

 

Man kann freilich die Frage stellen, ob seine Bücher eher wegen oder trotz der verfremdeten Kulissen funktionieren. Bei seinem Roman „Phonon“, der seine Zeit als Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex beschreibt, war die Kontrastierung durchaus gelungen, wurde das Sektenhafte der Musikredaktion gerade vor dem Hintergrund einer fantastischen Welt hervorgehoben. Bei „Für immer in Honig“ könnte etwas zu viel des Gemetzels dagegen manchen Leser abschrecken.

 

Aber wie macht er das? Tägliche Redakteursarbeit und nebenbei Romanautor? Als ein Kollege der FAZ witzelt, sein Romane-Schreiben ginge auf Kosten seiner Arbeit für die Zeitung, bei der er angestellt ist, zeigt Dath dem verblüfften Redakteur sein immenses Archiv. Er hat für das Blatt mehr geschrieben als manch anderer Redakteur. Es gibt wohl wenig fleißigere Journalisten in Deutschland als Dietmar Dath. Man könnte meinen, er müsse geklont sein. Dieser Autor ist einfach nicht zu fassen.

 

Dieses Jahr legte Dath gleich noch einen zweiten Roman vor. „Die salzweißen Augen“, erschienen im renommierten Suhrkamp-Verlag, ist ein Liebes-, Briefroman und zugleich ein theoretisches Manifest zum Thema „Drastik und Deutlichkeit“. In 14 Briefen an seine Jugendliebe Sonja versucht der Verfasser David, ihr nach über 20 Jahren zu erklären, was es mit seinem Interesse für Zombies, Porno und Death-Metal-Musik auf sich hat. Damals in der Raucherecke in der Schule schwärmten er und seine Freunde von ihren Lektüren, Hör- und Sehgewohnheiten. Doch Sonja, ein gut behütetes Mädchen, konnte damit nie viel anfangen. Nun ist viel Zeit vergangen, David mittlerweile Redakteur einer der angesehensten Tageszeitungen und er legt Rechenschaft ab darüber, warum er sich immer noch mit dem Schmuddelkram identifiziert.

 

In den Feuilletons der großen Zeitungen liest man nur dann etwas darüber, wenn es skandalverdächtig ist. Wenn Gruftie-Pärchen ihren Satanskult wahr machen und Menschen abschlachten, wenn wie in Erfurt Schüler Amok laufen oder Filme und Bücher auf den Index kommen. Picklig, zurückgeblieben, kontaktarm – so stellt man sich landläufig Jugendliche beim Ballerspiel am Computer vor und distanziert sich zumindest nach außen gern von ihnen. Pädagogen und Kulturkritiker sind schnell mit Kausalerklärungen bei der Hand: Der Konsum von Gewaltdarstellungen führt geradewegs zur Gewalt.

 

Dietmar Dath ist es ernst mit der Verteidigung oben genannter Genres. Es geht ihm nicht um das Erschaffen neuen Fantums oder die Verharmlosung der existierenden Gewalt. Im Gegenteil. Nur eine kompetente Analyse des Gegenstands kann wirklich aufklären. Er besteht auf die Anerkennung des souveränen Konsumenten. Die Leidenschaft an Horrorvideos ist nicht pathologisch, sie dient nicht einer irgendwie gearteten Kompensation. Nein, der Zuschauer, den Dath vor Augen hat, sieht den Dingen ganz bewusst in die Augen. Zur Abhärtung und Aufklärung.

 

In der liberalen westlichen Welt hat man sich längst an alles gewöhnt, scheint es. Aber das, was wir im Kino, in Büchern und im Radio präsentiert bekommen, „Schweigen der Lämmer“, „American Psycho“, ist doch meist nur die weichgespülte Version dessen, was D. drastisch nennt. Seine Vorstellung von Drastik geht wesentlich weiter als ein Spartenphänomen. Die ans Extreme gehenden Darstellungen von offenen Wunden, Geschlechtsteilen und martialischen Klängen sind nicht Pop, sondern Kunst, die aufklärt. Vielleicht die einzige Avantgarde in Zeiten alles zulassender liberaler Postmoderne.

 

Gustav Mechlenburg

 

Dietmar Dath: Für immer in Honig, 971 Seiten, 36 €, Implex Verlag 2005

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen, 216 Seiten, 19,80 €, Suhrkamp 2005