Immaterieller Lastenträger
(für Nora)
Dass die Abwesenden nicht nur ein Name sind – dafür hat es schon immer Techniken gegeben. Zum Beispiel erinnerte die Quaste mit dem blauen Purpur am Kleide seines Volksgenossen den Hebräer daran, dass der Herr seine Augen überall hat – und uns zeigt es, dass „1984“ keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. Die Scherbe (das symbolon), die der reisende Grieche im fernen Lande auspackte, sagte ihm, dass es zu dieser ein Gegenstück gebe, das der in der Heimat verbliebene wie seinen Augapfel hütete. Die Quaste, die Scherbe etc. – all diese Materialisierungen, die auch anders hätten gewählt werden können, geben sich als Verfahren zu erkennen, Gedächtnis zu stützen und Erinnerungen auszulösen. Das Bild, das der heutige Zeitgenosse in seinem Portemonnaie von seinem/seiner Geliebten hat, mag ästhetisch zwar auch ganz gelungen sein – was in den seltensten Fällen tatsächlich so ist –, das Entscheidende ist allein, dass es darauf hinweist, dass es da jemanden gibt in Fleisch und Blut, der zu einem gehört fast wie man selbst. Oder sollte man nicht eher sagen: mehr als man selbst?
Wenn Hans Castorf das Bild von Madame Chauchat in der Wohnung des Hofrat Behrens betrachtet, so löst das alles andere als brave kantianische ästhetische Urteile aus, vielmehr vergreift er sich an dem Gemälde, hängt es ab, schleppt es mit sich herum und möchte es sich am liebsten dazugesellen, sich und dem anderen Portrait, das er schon von ihr hat. Das ist sehr rührend und sehr komisch zugleich. Hans Castorf möchte, dass das Konterfei aus dem Rahmen heraustritt und anfängt, zu leben, für ihn und mit ihm. Genau dieser Pygmalion-Impuls ist ja der Trick dieser ganzen Angelegenheit, dass das Abwesende anwesend sei.
Das ist auch der Grund, warum im „Radetzkymarsch“ der junge von Trotta niemals hätte Soldat werden dürfen. Dem Kaiser rettet man nur einmal das Leben, und für den Enkel ist da schon gar kein Platz mehr. Im Hause der von Trotta steht das Gemälde des Helden von Solferino. Damals, 1859, rettete ein völlig unbekannter Soldat namens Trotta dem Kaiser das Leben dadurch, dass er sich vor seinem Kaiser in die Schusslinie einer Gewehrkugel warf. Verloren haben die Österreicher zwar trotzdem, aber immerhin hatte die Rettungstat den Österreichern einen neuen erblichen Adelstitel beschert: die von Trotta. Der Held war so weise, seinen Sohn nicht zum Militär zu schicken. Der junge Mann hätte nur scheitern können an den hoch gesteckten Erwartungen. Dieser wird also Beamter, der es sich leisten kann, ohne Druck stolz auf seinen Vater zu sein. Aber dieser gute Mann begeht den kapitalen Fehler, seinen eigenen Sohn in die Kadettenschule zu schicken. Nicht nur, dass er ein völlig unbegabter Soldat ist, wie sich schnell herausstellt – es kommt, wie es kommen muss, das Bild seines Großvaters fängt an zu wachsen, wo schon die Autorität des Vaters gereicht hätte, ihn still zu stellen.
Solferino ist überall, aber die Kontur des jungen von Trotta wird dort nicht sichtbar. Das Schlimme ist, er weiß es von Anfang an, und er weiß, dass er nichts machen kann. Während Hans Castorf auf baldige Re-Pygmalisierung hoffen darf – die Rückkehr Clavdia Chauchats – und die Zeit sich ihm als Kreislauf darstellt, so heißt das Leben des jungen Lieutenants nichts als Niedergang. „Das Bild war immer stärker als ich.“ Das ist die grausame Wahrheit einer Konkurrenzsituation, die man – einmal geschlagen – hinter sich lassen könnte? – nein, sie ist ewig. Und diese bärtigen Männer sehen ja alle gleich aus, der Großvater auf dem Gemälde, der lebende Vater und der Kaiser Franz Josef auf den Bild- und Fotopopulationen sowie im späteren Verlauf als handelnde Figur, ein debiler plappernder Mann. Gegen diese Dreieinigkeit kann man nicht antreten. Erlösung gibt es nur im Tod. Und im Krieg. Manchmal muss man sich die Abwesenden als bloße Namen vorstellen.
Dieter Wenk (01.02)
Michael Kehlmann, Radetzkymarsch, A 1965