Im Speicher
»Dass der Überblick nicht wahr ist, sondern das Darinsein, das ist ein Ausspruch von Marleen, als ich sie einmal fragte, wie fühlst Du Dich?« Rolf Dieter Brinkmann
Die iPodisierung der Welt begann 1867. Damals gründete der Verleger Anton Philipp Reclam seine Universal-Bibliothek: Weltliteratur als Miniaturen-Sammlung, die locker in die Tasche passt. Es braucht nicht viele Regalmeter, um die wichtigen Texte zu besitzen, versprechen die knapp DIN-A6-kleinen Bücher. Reclams Universal-Bibliothek sollte einen Fundus klassischer Literatur preisgünstig zugänglich machen und so Wissen – das Macht sei, wie damals viele hofften – unters Volk bringen. Im Zeitalter der ersten industriellen Revolution, dem bildungsbeflissenen 19. Jahrhundert, ein Massenspeicher.
„An der Fortsetzung dieser Serie wird unausgesetzt gearbeitet“, prophezeite die Reclam-Werbung bereits 1868. Mein jüngstes Exemplar trägt ein Foto von Miles Davis und den ziemlich uncoolen Titel „Basis-Diskothek Jazz“. Für mein Empfinden baut das Wort Diskothek zu dem Begriff Jazz eine deutliche Spannung auf. Ist das ein weiterer Kanon, gedacht für Leute, die ihre Plattensammlung Diskothek nennen? Schließlich fördert das enzyklopädistische Bedürfnis nach dem geschlossenen Ganzen noch immer beste Verkaufszahlen vom „Kanon der Literatur“ über „Bildung. Alles, was man wissen muss“ bis zum „Weltwissen der Siebenjährigen“ und der „SZ-Diskothek“ der Popmusik. Jetzt hat es also auch den Jazz erfasst. Und irgendwie ist Reclams UB ja auch der Prototyp der seriellen Wissensakkumulation – selbst ein Sammelsurium und infinit-indefinite Basis-Bibliothek.
Die Menge an Entschuldigungen, die der Autor Ralf Dombrowski im Vorwort und Manfred Scheffner im Nachwort eilfertig vorbringen, um zu erklären, dass so eine Auswahl nie komplett sein kann, schafft in dieser Hinsicht natürlich keine Entlastung. Bis auf einen harten Kern von „rund einem Dutzend unumstößlicher Meisterwerke“ könne sich die Fangemeinde selten auf einen Kanon einigen. Das liege in der Natur der Sache. Aus Platzgründen könnten manche der von anderen geschätzten „Hörjuwelen“ in dieser Sammlung nicht vorkommen. Es hätten also Entscheidungen getroffen werden müssen und so weiter, aber alles nach „nachvollziehbaren Kriterien“.
Und im Nachwort schulmeistert es völlig ungehemmt: „Im Zusammenwirken mit einem der tabellarischen Standardwerke über die Entwicklung der Jazzmusik wiederum wie etwa dem Bielefelder Jazz Katalog, der alle wesentlichen lieferbaren CDs verzeichnet, einer guten Beratung und einem der leider selten gewordenen Fachgeschäfte …“ – es kommt noch schleimiger – „… oder auch beim gemeinsamen, aktiven und kommunikativen Hören der Musik, lassen sich die eigenen Kenntnisse dann kontinuierlich erweitern.“ Ach, so ist das also gedacht. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Musiktherapeuten oder Klavierlehrer. Und dann soll es am Ende, im allerletzten Satz und um diesen Punkt nicht womöglich ohne Not zu verspielen, eben doch noch ein Kanon sein, aber halt einer, der eine „Anregung“ sein möchte, „sich dem überaus vielseitigen Thema Jazz“ zu nähern.
Das wäre alles nicht weiter verwunderlich und bildet gerade für den Jazz ein bekanntes Einstellungsprofil. Die beflissene Rezeption überhöht ständig entweder die sozialpolitische Dimension des Jazz und fasst sie als das eigentliche Feld seiner Bedeutung auf oder sucht nach einer Legitimation auf Seiten der Kunstmusik – so wurden schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts Jazz und Neue Musik gegeneinander ausgespielt. Bei Reclam scheint die Tendenz klar in Richtung des Letzten zu gehen. Jazz soll Kulturgut sein, woran schon Adornos Kritik am Jazz ansetzte, der die sinnlosen Versuche missbilligte, aus dem Jazz mehr machen zu wollen, als er war. Wobei „Hörjuwelen“ wohl genau den richtigen Nerv träfen, um den Musikphilosophen auf ewig in seinem Fehlurteil zu verschanzen.
Das alles ist somit nicht neu. Aber man täte der Basis-Diskothek Jazz schrecklich unrecht, wenn man sie anhand ihres Vor- und Nachwortes beurteilen wollte. Die 120 CD-Besprechungen sind nämlich ohne Ausnahme und von der ersten bis zur letzten Zeile lesenswert. Der Germanist Dombrowski besitzt genug musikwissenschaftliches und journalistisches Handwerkszeug, um scheinbar mit Leichtigkeit musiksoziologisch oder ästhetisch komplexe Phänomene vorzuführen. Ein „klangethnisch gefärbter Sound“ oder die „artifizielle Ekstase des Tango Nuevo“ kommen einem vor wie Wendungen, die man schon lange gesucht hat. Gleichzeitig würdigt Dombrowski Qualitätskriterien, die ihren Sinn jenseits des akademischen Diskurses entfalten: etwa wenn er Kenny Burells Midnight Blue als eine der „lässigsten Platten“ des klassischen Jazz einstuft.
Zudem enthält das Buch unvermeidlicherweise oder quasi nebenbei mindestens eine Theorie des Jazz. Was beispielsweise über Ornette Coleman und den Free Jazz gesagt wird, ist mehr als die Geschichte eines linearen Fortschritts der klanglichen und musikalischen Verfahren. Der Autor nennt Zyklen und Gegenbewegungen und erläutert die Befreiungsmechanismen innermusikalisch statt sozialgeschichtlich. Auch, dass Musiker sich nicht nur von den Fesseln des Materials, das sie vorfinden, zu befreien versuchen, sondern unter Umständen gegen die eigenen Hör- und Spielgewohnheiten aufbegehren, ist ein gutes Beispiel für das komplexe Musik-Weltbild Dombrowskis.
Das Spektrum reicht von John Abercrombie bis John Zorn, alphabetisch; von Jelly Roll Morton bis Nils Petter Molvaer oder von Ella Fitzgerald bis Albert Mangelsdorff, stilistisch; und umfasst Schallplattenaufnahmen von 1925 bis 2005. Die Auswahl ist subjektiv, aber überhaupt nicht beliebig. Vielfalt, Originalität und Individualität der Kriterien fallen geradezu auf, anhand deren Dombrowski fast jedem seiner Kandidaten das Go erteilt. Das ist mal „einer der erfolgreichsten Konzertmitschnitte“, ein „Unikat der Jazzgeschichte, das ... aus dem Kontext der improvisierenden Traditionsbildung herausfällt“ oder trocken „Mit Lester Bowie kam die Postmoderne in den Jazz“.
Man kann das Buch auch einfach durchlesen, und es fungiert als komprimierte Jazz- und Werkgeschichte. Im Register finden sich viele Musiker, deren Titel man vielleicht vermisst hat, die aber an irgendwelchen Aufnahmen doch beteiligt waren. Sollte man von einem so kleinen Buch noch Größeres erwarten?
Vielleicht ließe sich die Sache irgendwie passender verpacken und verkaufen. Dass die Reclam-„Hefte“ Generationen von Lesern den Gedanken der Pflichtlektüre näher gebracht haben als gewünscht, bringt sie leicht in Misskredit, wenn es um Neigungsfächer wie Jazz geht. Im vorliegenden Fall macht die bräsige An- und Abmoderation das unter Garantie nicht besser. Und das Präfix „Basis-“ hilft nicht über den postmodernen Reflex hinweg, dass die Geschichte des Jazz spätestens mit der Aufnahme in Reclams UB abgeschlossen sein könnte. Möge sich in der Sammelleidenschaft die Bereitschaft verbergen, vergessen zu wollen und Wissensballast auf den Massenspeicher des UB-iPod auszulagern. Vielleicht kündigt sich darin die Möglichkeit des musikalischen Fortschritts an.
Ralf Schulte
Ralf Dombrowski: Basis-Diskothek Jazz, Reclams Universal-Bibliothek, Stuttgart 2005