29. November 2005

Vermessen

 

Irgendetwas muss mit den Bewerbungsunterlagen nicht gestimmt haben. Josef K. ist durch den winterlichen Schnee watend angereist, fragt in dem unterhalb des Schlosses liegenden Dorf nach einer Übernachtungsmöglichkeit und gibt sich als Landvermesser aus, der im Dienste des Schlosses arbeiten soll. Man glaubt ihm nicht, will ihm in dem Gasthaus auch erst keinen Schlafplatz zuweisen. Ein Anruf mit dem Schloss, das eine Verbindung mit dem Landvermesser bestätigt, verschafft ihm Respekt. Den Alten im Gasthaus gehen die Augen über. Aber nützen wird es ihm nichts, dem Josef K. Zum Glück, so glaubt er, hat er die Bestätigung bezüglich seiner Tätigkeit schwarz auf weiß, aber ein Blick in die Stube des Gemeindevorstehers mit Tausenden von Sendschreiben, die nach keiner bekannten Logik aufbewahrt sind, lässt das Schlimmste befürchten. Vielleicht liegt sogar eine Verwechslung vor, denn vor Jahren gab es schon einmal eine Angelegenheit mit einem Landvermesser. Aber das lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wie sorgfältig auch die beiden Josef K. zugesellten Gehilfen, die beiden vom Schloss abgestellten Zwillinge, suchen.

 

Natürlich bringen sie alles nur in Verwirrung, sie spielen „suchen“, wie sie überhaupt alles nur komisch begleiten (das wirkt im Film sehr unangenehm). Die Ernsthaftigkeit von Josef dagegen lässt nicht nach. Vermutlich braucht er den Job. In der Stadt hat er wohl nichts bekommen – er ist ja auch Landvermesser, haha, aber auch im Schloss kommt er zu spät, seine Zeit ist abgelaufen. Das sieht man ihm auch gleich am Anfang an. Er macht keinen Aufstand, lässt alles mit sich geschehen, wartet, hofft, aber er wirkt wie einer, der keine andere Wahl hat. Er ist ein Opportunist der sich ergebenden Schloss-Zeichen, die natürlich alle in die falsche Richtung weisen. Sogar seine frühe Bekanntschaft Frieda ist nicht, was sie scheint, sie soll die Geliebte des immer abwesenden Sekretärs Klamm sein, mit dem K. in Verbindung zu treten versucht. Seine Landvermesserkommunikationen kommen nirgends an.

 

Als er bei einer festlichen Veranstaltung zunächst höflich gebeten wird, Platz zu nehmen, wird er aufgefordert zu erzählen, was das denn überhaupt sei, ein Landvermesser, und zwar in einem Ton, der zu verstehen gibt, hört mal zu, gleich wird’s lustig. Dann beginnt K., zu erzählen, seine Stimme wird bald von der Blaskapelle zugedeckt, und die alte Frau, die ihn fragte, unterbricht ihn schließlich und sagt nur: Warum lügen Sie eigentlich ständig. Das klingt erst mal wie ein Witz, ist aber doch wahr, denn auch Josef K. ist nur ein Don Quichotte, mit einem vermarxbrotherten Doppelsanchopansa an seiner Seite. Aber ehrlicherweise gilt auch das Gegenteil: Auch das Dorf gibt es gar nicht, es ist entweder schon tot, ausgelaugt, vergeben, oder es will in Gestalt seiner jungen Vertreter, Schüler, so werden wie Josef K. Insofern schließt sich das Artikulieren der scheinbar so verschiedenen Ansprüche, die hier aufeinander treffen, ganz und gar logisch zusammen.

 

Alles in allem das völlige Gegenteil unserer heutigen schnellbereiten und testversessenen Zeit. Keine Macher, nirgends, keine Verantwortlichkeiten oder verortbaren Zuständigkeiten, eine Demut gegenüber einer sozialen Fatalität, die uns fremd geworden ist, weil wir alle mit Meisterdispositionen aufwachsen. Die Buchvorlage ist übrigens viel lustiger als der öde Film mit einem öden Maximilian Schell.

 

Dieter Wenk (11.01)

 

Rudolf Noelte, Das Schloss, D/A 1968