25. November 2005

Fluchtpunkt

 

Die Aufforderung „Liebe dein Symptom wie dich selbst“ (denn du hast nichts anderes) lässt sich manchen Existenzen gegenüber nicht artikulieren. Denn entweder haben diese die Grenze zwischen einem ansprechbaren Subjekt und dessen symptomatischen Hinterwandmalereien bereits erfolgreich verwischt (sodass etwa die „Klavierspielerin“ nichts anderes als ihr Musikpanzer ist, mit dessen Durchdringung auch sie selbst verschwinden würde), oder aber diese sonderbaren Wesen verharren noch auf einer präsymptomatischen Stufe, die es ihnen verwehrt, dass sie sich an was auch immer aufhängen können.

 

So ist es auch mit Carol (Cathérine Deneuve), die den Ekel „gibt“, obwohl oder eben gerade weil sie nichts hat. Die beiden zentralen Modi ihrer Präsentation sind dann notwendigerweise Abwesenheit und Panik. Sie sind so sehr aufeinander bezogen, dass es nichts gibt, was diese fundamentale Leere auffüllen könnte. Was sich dieser im Grunde sehr attraktiven Person anbietet, steht immer unter dem Verdikt des „dies ist es nicht“. Aber anders als die Hysterikerin wirbt sie hier zunächst nicht für sich, um anschließend um so souveräner zurückweisen zu können. Ihre unfreiwilligen Küsse sind ein psychotischer Verschluss (der starre Blick ins Leere), ihre abweisenden Antworten ein selbsthalluzinierender Abbruch und ihre Tötungen quasi-logische Reaktionen auf eine in sie eindringen wollende Außenwelt in Gestalt begehrender Männer. Es ist immer nur Platz für sie selbst, aber dieses Selbst gibt es gar nicht. Ihr einziges halbwegs stabiles vegetatives Feld ist ihre Umgebungsgewohnheit, die Wohnung ihrer älteren Schwester, mit der sie zusammen lebt.

 

Diese schwesterliche Anwesenheitskulisse wird doppelt bedroht. Einerseits durch deren Freund, der den imaginären Haushalt zum Platzen bringt, andererseits durch die Ankündigung einer Reise der Schwester mit ihrem Freund, was zur Folge hat, dass die jüngere Schwester alleine zurückbleibt. Und zwar zunehmend als Pflanze, die Tötungen sind nur Bestätigungen für ihre Abweisung von Irritation, die etwas anderes ins Spiel bringen würden. Das Gießen der Schwesterpflanze übernimmt nun gewissermaßen die Wohnung selbst, allerdings ist diese eher eine Schutz- als eine Pflegefunktion. Die Verletzung dieses Schutzes, das Aufbrechen der Wohnungstür durch den zurückgewiesenen Liebhaber ist dann nichts anderes als die Bedrohung ihrer idiotischen, reinen, sozial völlig unversehrten und somit auch völlig richtungslosen Membran, die am liebsten immer nur mit sich selbst Kontakt aufnehmen würde. Jede Fremdberührung ist schrecklich.

 

Und das erfahren der unglücklich Liebende und der etwas später eindringende zudringliche Vermieter, deren Bewegung sie still stellen muss. Ihr Ideal ist das im Wohnzimmer auf einem Teller vor sich hin faulende abgezogene Kaninchen. Dem kann nichts mehr passieren, auch wenn man ihm den Kopf abschneidet. Zuletzt west sie unter ihrem Bett, katatonisch. Dort entdeckt sie ihre zurückkehrende Schwester. Ein letzter Blick führt den Zuschauer an ein schon mehrfach aus der Distanz gezeigtes Familienfoto heran. Die ältere der Schwestern sieht wie die anderen Familienmitglieder in die Kamera, nur die jüngere hat den Kopf schräg nach oben gerichtet, mit Augen, die etwas sehen wollen, was sich aber nicht zeigt. Für manche Gestalten gibt es dann keinen Weg mehr zurück oder nach vorn, sie werden zu Verwesern ihrer selbst, anspruchslos.

 

Dieter Wenk (10.01)

 

Roman Polanski, Ekel (Repulsion), GB 1965, Cathérine Deneuve, Ian Hendry, John Fraser, Yvonne Furneaux