24. November 2005

Gottesanbeter

 

Zwei Revolutionen zum gleichen Zeitpunkt in einem Land sind eine zu viel. Es dürfte einmalig sein, dass in einem Land, Russland, zwei Avantgarden, die eine politisch, die andere ästhetisch, zeitgleich das Ruder an sich rissen und für die knappe Zeitspanne eines Jahrfünfts erwarten konnten, ein und dasselbe Ziel im Auge zu haben – den neuen Menschen. Im Rückblick fällt auf, wie sehr das Standbein der ästhetischen Strömung schon damals in der Luft hing. Und als es wieder den Boden der Tatsachen erreichte, war es mit einem hässlichen Etikett versehen, das der ehemals revolutionäre Bruder, der nichts von sich im Unendlichen schneidenden Parallelen hören wollte, ihm angeheftet hatte: sozialistischer Realismus.

 

Einen guten Einblick in die Zwischenzeit, also von 1913, der Uraufführung der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ in St. Petersburg, bis 1934, der von Stalin verkündeten Verpflichtung der sowjetischen Künstler auf den sozialistischen Realismus, gibt der umfangreiche Band „Am Nullpunkt – Positionen der russischen Avantgarde“. Die russischen Künstler um 1915 kämpften gleich an mehreren Fronten. Als fortschrittliche Kräfte mussten sie sich mit dem Symbolismus der Zeit auseinander setzen, der entweder unverzeihliche Affinitäten mit dekadenten Untergangsgelüsten unterhielt oder den Neuaufbruch mit Mitteln empfahl, die selbst schon mit Patina glänzten. Gegen den Symbolismus war es nur logisch, eine Tabula-rasa-Situation zu postulieren, einen radikalen Schnitt mit der Vergangenheit. Zugleich wurde in der Auseinandersetzung (kubo-)futuristischer russischer Künstler mit den italienischen Kollegen um Marinetti klar, dass die Kriegsbegeisterung der transalpinischen Avantgarde kein Maßstab für die russische Kunst sein konnte. Diese destruktive Note der Italiener musste in Konstruktion umgewandelt werden. Innerhalb kürzester Zeit kam es in Russland zu ganz unterschiedlichen Konzeptionen avantgardistischer Kunst, was zu diesem Zeitpunkt bedeutete, dass man ganz verschiedene Vorstellungen von dem hatte, in welchem Verhältnis Kunst und Leben stehen und wie das eine im anderen aufgehen könne.

 

Die wohl interessanteste, zugleich problematischste Position ist wohl in Kasimir Malewitschs Suprematismus zu sehen; sein legendäres „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“, zum ersten Mal gezeigt auf der „Letzten Futuristischen Ausstellung 0,10“ im Dezember 1915 in St. Petersburg, wurde schon von ihm selbst selbstbewusst als „Ikone“ der neuen Kunst gefeiert, als ein Vorstoß in neue Dimensionen, der alles, einschließlich der traditionellen Kunst, hinter sich gelassen habe. Auch Malewitsch war ein leidenschaftlicher Manifeste-Schreiber. Er, der die neue Gegenstandslosigkeit pries, musste in Texten davon Rechenschaft ablegen, was das konkret hieß. Schon damals biss man sich an seinen Texten die Zähne aus (Russisch war nichts seine Muttersprache, was zu mannigfachen syntaktischen und semantischen Brüchen führte), ohne eine – wie hier, reichhaltige – Kommentierung würde man wohl schnell das Handtuch werfen, aber selbst mit unterstützendem Sachverstand fällt der Sprung in die fünfte Dimension nicht leicht. Dass Malewitsch nach der Oktoberrevolution eine steile Karriere hinlegte (Chefkonservator aller Moskauer Kunstschätze und Leiter aller Kunstinstitute) und man bereit war, seinen krassen Kunstidealismus irgendwie doch materialistisch zu subsumieren (und sei es nur als suprematistischen Werbeschnickschnack qua „design for living“), lässt einen rückblickend doch staunen.

 

Der kurze Zeit später namentlich gekürte Konstruktivismus hatte in Malewitsch schnell einen Feind gefunden, dem man plausibel vorwerfen konnte, mit dem autonomen Quadrat eine gesellschaftlich Exklave zu beziehen, wo es doch vielmehr darum ginge, wirklich Schluss zu machen mit der Kunst und die gestalterischen Fähigkeiten mit den baulichen Kapazitäten der Ingenieurskunst kurz zu schließen. Nicht ein einzelnes Künstlergenie, die ganze Gesellschaft habe die Erbschaft der Kunst zu übernehmen. Genau hier war nun auch der Punkt erreicht, wo die ästhetische Avantgarde auf einem Terrain Ansprüche anmeldete, auf dem eigentlich nur ein Organ das Sagen hatte, die Partei. Schon Lenin konnte mit all den Ismen nichts anfangen („Ich habe keine Freude an ihnen“), die Erfindung des runden Tischs war einer späteren Zeit vorbehalten.

 

Der nächste logische Schritt der Avantgarde folgte auf den Fuß: Aus revolutionärer Kunst wurde Dekoration und Design. Das war eine Schiene. Eine andere machte erneut den schon im Futurismus waltenden „Alogismus“ stark und erfand, lange vor Camus, Beckett und Ionesco, absurde Kunst (u.a. die Gruppe der Oberiu, zu denen Daniil Charms gehörte). Eine weitere Position, nachdem klar war, dass aus dem Bündnis von Politik und Kunst nichts werden würde, bekleidete der Ingenieur und Schriftsteller Andrej Platonow, dem das Montageprinzip aus seinem ersten, technischen Beruf völlig geläufig war und der nun begann, Texte zu produzieren, die sich einer eindeutigen Wertung (Affirmation oder Kritik) entziehen und damit einen ganz eigenen Reiz entwickeln. Dieser Autor war mit allen (formalistischen) Wassern gewaschen, dem postmodernen Leser erscheint Platonow wohl als der damals modernste russische Schriftsteller. Das ist ein ganz großartiger Autor.

 

Dieser Band lässt einen sowohl deprimiert als auch verstört zurück. Letzteres, weil das meiste von dem, was hier als avantgardistische Position vorgestellt wird, heute auch nicht mehr ansatzweise zu artikulieren wäre: Man ist nicht mehr größenwahnsinnig genug, um all das zu denken, ein ganzer Illusionsbereich ist ja weggebrochen, eine Tabula-rasa-Lage wie damals wird es so schnell nicht wieder geben. Und das ist ja auch das Deprimierende an der Sache. Heute gibt es keine Positionen mehr, verglichen mit damaligem Größensinn. Man spielt vielleicht nostalgisch mit metaphysisch aufgeladenen Termini wie „Ereignis“, aber es fällt schwer, das als etwas anderes zu nehmen als großtuerische „Hinterwäldlerei“. „Am Nullpunkt“ kommt so schnell nicht wieder. Bleibt die Zeitreise zurück. Es lohnt sich.

 

Dieter Wenk (11.05)

 

Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, hg. von Boris Groys und Aage Hansen-Löve unter Mitarbeit von Anne von der Heiden, Frankfurt am Main 2005 (stw), 778 Seiten, 20 €

 

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