20. November 2005

System und Glaube

 

Wie zu erwarten, meint Niklas Luhmann im Titel keine bestimmte Religion, auch nicht die Idee oder das Ideal einer Religion, sondern Religion als ein gesellschaftliches System, und zwar der Weltgesellschaft. Eine systemtheoretische Charakterisierung („Codierung, Funktion und Abgrenzbarkeit gegenüber nichtreligiöser Kommunikation“) entbindet den Autor davon, eine apriorische Wesensbestimmung von Religion abzugeben, die dazu führen könnte, dass manche religiöse Formen aus dem Katalog einfach herausfallen. Und gibt es nicht nur verschiedene Religionen, sondern sogar verschiedene Weltreligionen? Die mehr oder weniger friedlich nebeneinander existieren? Ohne die Dramatik Kalter Kriege von Weltmächten?

 

Religionen unterscheiden sich voneinander dadurch, dass sie die Leitdifferenz des Systems (immanent/transzendent) unterschiedlich füllen. Und sie unterscheiden sich dadurch von nichtreligiösen Systemen, dass ihre Leitdifferenz unübertragbar ist, das heißt etwa, dass Transzendenz für die meisten Systeme überhaupt keine Rolle spielt. Wenn man Religion, wie Luhmann das tut, von außen beschreibt, hat man es als Glaubender vermutlich nicht leicht zu sagen, warum man diesem und nicht jenem Glauben anhängt. Glauben empfiehlt sich nicht von selbst, denn dann müssten alle dasselbe glauben. Wenn man sich aber für einen bestimmten Glauben entscheiden muss – und sei es naturalisiert durch die Genealogie der Herkunft – dann könnte man sich auch immer anders entscheiden. Bekehrungen gehören zum Inventar von Religion selbst. Und das liegt einfach darin, dass Transzendenz keine spezielle Adresse hat, sondern Erfindungen darstellen, die nötig sein mögen, um bestimmte Fragen zu beantworten, die aber nicht jeder notwendigerweise stellt. Immer dann jedoch, wenn absolute Kriterien ins Spiel gebracht werden, wirkt das auf andere „sozial diskriminierend“, beleidigend oder sogar als Kriegserklärung.

 

In Zeiten zunehmender Globalisierung wächst, so vermutet auch Luhmann, das Arsenal an Fundamentalismen. Und das nicht nur im religiösen Bereich. Die Nichtlösbarkeit der Frage nach der Natur des Menschen, die phasen- und systemweise diskursiv ruhig gestellt werden kann, birgt prinzipiell Explosivstoff. „An diesem Punkte spalten sich die Weltvorstellungen des modernen Individualismus und der Religion mit der Folge, dass heute religiöser Fundamentalismus und Menschenrechtsfundamentalismus in einen Konflikt geraten, für den keine Lösungen in Sicht sind.“ Denn mit Fundamentalisten – welcher Region auch immer – kann man nicht reden. Sie können immer nur mit sich selber reden, die andere Seite der Unterscheidung wird immer der Todfeind sein. Manche (selbst gemachte) Probleme sterben erst dann aus, wenn es niemanden mehr gibt, für den sie eben ein Problem sind. Aber das Haupt der Medusa ist nicht nur eine alte Geschichte. Sie hört nicht auf, sich zu schreiben. Und das wird man vermutlich bald sehen. Gut und böse gibt es immer mindestens in zwei Fassungen.

 

Dieter Wenk (09.01)

 

Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000