18. November 2005

Suff

 

Es gibt großartige Säufer in der Literatur. In der "Islandglocke" von Halldór Laxness, in "Die Reise nach Petuschki" von Wenedikt Jerofejew, natürlich in Malcolm Lowrys "Unter dem Vulkan", bei Bukowski, Frank Schulz und Eckhard Henscheid. Diese Bücher haben eins gemein: die unbändige Erfindungswut der Säufer, wenn es um das Herbeischaffen von Alkohol geht. Dieser Einfallsreichtum entspricht dem der Autoren beim Herbeischaffen von Worten. Alkoholismus ist nicht nur ein Thema, sondern auch Metapher fürs Schreiben. Nicht anders ist das bei der schottischen Autorin A. L. Kennedy, die mit "Paradies" jetzt ebenfalls einen Säuferinnenroman geschrieben hat. Leidenschaftlich trocken schildert sie mit dem Tunnelblick einer Säuferin ein hochprozentiges Paradies. Eine Frau, die trinkt wie ein Mann, also Whiskey, nicht Likör, ist bestürzend und kommt in der Literatur selten vor.

 

Aber Kennedys Entscheidung für eine monomanische Alkoholikerin als Heldin des Romans ist vor allem eine Entscheidung für pfeilschnelle Sprache, brachiale Urteile, deren Bedingungen man nicht logisch koppeln muss. Diese Sprunghaftigkeit ist lebenswirklich fundiert. Jeder kennt alkoholinduzierte Gespräche. Zwitter aus Gedankenstrom und Taktlosigkeit.

 

Hannah Luckraft, eine 36-jährige kinderlose Schottin, wohnt in der Stadt und hat Sex mit Robert, dem Zahnarzt. Sie verliert ihren Job, es kommt zu einem unfreiwilligen Klinikaufenthalt, danach arbeitet sie in einer Bar. Viel mehr Rahmenhandlung gibt es in dem Roman nicht. Die Ich-Erzählerin sieht ihre Umwelt meist nur verschwommen. Umso exzentrischer ragen die Gedanken der Frau hervor, die funkelnde Sinnsprüche auf die Getränkeindustrie abzusetzen weiß, tatsächlich aber nur ein Mittelklasseleben führt.

 

Katastrophale Entwicklungen haben für Hannah kein Gewicht. Ihr Problem besteht im Wesentlichen in der Rekonstruktion der unmittelbar zurückliegenden Ereignisse. Wem gehört der Hotelschlüssel? Wer ist dieser Mann? Wem gehört die Reisetasche? Dabei sind die detaillierten Beschreibungen zur veränderten Wahrnehmung von Raum und Zeit nach Einnahme ungeheurer Mengen Alkohol die besten Passagen des Buches: "Wenn einem erstmal der Film gerissen ist, hört es nicht mehr auf, also existieren Vorher und Nachher nicht mehr - man hat die Kunst erlernt, der linearen Zeit zu entkommen."

 

Anfangs ist man skeptisch, ob es A. L. Kennedy gelingen wird, das ständige Abreißen der Zusammenhänge zu einem heilen Roman zu machen. Es gelingt, und es ist trotzdem unglaublich anstrengend. Denn Hannah Luckraft spricht ungeniert ständig von sich selbst, und sie ist eine unberechenbar handelnde Person, vor deren plötzlich aufbrechender Bestialität man regelrecht erschreckt. Dennoch ist sie eine zuverlässige Erzählerin. Sie erzählt nichts, worüber sie nicht kompetent berichten könnte. Sie ist illusionslos, bitter, ironisch und auf Pointen geradezu versessen. Im Ärger über die vorbildliche Hausfrau und Gattin ihres Bruder etwa, die obendrein schwanger ist, findet sie die treffende Formulierung von der Dame mit "einem Braten in der Röhre". Kennedy schreibt präzise, apodiktisch bis zum Brechreiz der Heldin.

 

Die verzweifelte Polemik Hannahs gegen die lauwarmen Einhegungen der Entzugsklinik mit Gruppentherapie und Kiefernmöbeln lassen den Leser irre werden an der frommen Idee von therapeutischer Behandlung und Hilfe. Hannah spielt in der Klinik den fröhlichen Trottel, weil sie nie auf diese Art und Weise betrunken war. Tatsächlich ist sie misstrauisch und böse. Um vom Gelände auszubrechen, verschafft sie sich Geld. Ihre Mittel sind gemein, sie beschönigt das nicht. Sie macht sich keine Illusionen, weder über ihre Krankheit noch über ihr Verhältnis zu Robert. Es ist eine große Liebe zwischen Robert und Hannah. Zwei Säufer haben aber viel kompliziertere Annäherungstechniken als normale Menschen. Immer ist einer nicht richtig betrunken. Oder man erfährt, wie viele Sorten Trunkenheit es gibt. Schokoladen-, süß-, und sandigtrunken, Worte für Zustände im Durchgang zum Delirium. Ebenso viele Sorten Kater gibt es.

 

Ein Text kultivierter Selbstbeherrschung im Ohrensessel ist "Paradies" nicht. Der Text ist extrem, und er ist klug und deprimierend. Monomanen wollen und können nicht gerettet werden, schon gar nicht vom Leser. A. L. Kennedy bleibt hart. Das Paradies dieses Buches ist kein Ort, an dem man den ganzen Tag Lieder singt und im Nachthemd mit einer Harfe rumschlurft. Das Paradies von Hannah Luckraft ist der Suff.

 

Nora Sdun

 

A. L. Kennedy: "Paradies". Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach Verlag, Berlin 2005, 368 Seiten, 22,50 Euro

 

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