10. November 2005

Wenn der Zug immer noch steht

 

Die Gegenwartsliteratur ist eine gigantische Kommentierungsmaschine. Zwar hat schon Montaigne den artigen Buchstaben bescheinigt, dass sie sich viel lieber untereinander tummeln und einer vom anderen abstaubt, als dass sie ihrer Referenzpflicht nachkämen. Aber damals mochte man das vielleicht noch als Tadel begreifen, der wirkliche Auswirkungen auf Schreiberhände haben konnte. Gleichwohl musste noch ein paar Hundert Jahre später ein Edmund Husserl den so pathetischen wie ein wenig altbackenen Ausspruch bemühen: Zu den Sachen selbst! – nur um zu begreifen, dass eigentlich gar nichts mehr zu retten war und Philosophie, zum Beispiel, etwas war, das vor allem als vertextetes Phänomen vorkam.

 

Heute heißt der Herrensignifikant natürlich nicht mehr Wahrheit oder Schönheit oder Gerechtigkeit, sondern Sex. Dass durch das Ausstoßen des Meisterworts dem Körper noch nicht Genüge getan ist, ist ein Grund dafür, dass es so was wie Literatur gibt. Das Zauberwort des letzten Jahres hieß „Zugang“, obwohl es nicht in erster Linie auf den Sex gemünzt war. Stimmen tut es trotzdem. Das Problem mit dem Sex ist der Zugang. Das ist eine Einsicht, die der Leser der 90er Jahre spätestens mit Houellebecq getrost mit nach Hause nehmen durfte. Hier, aber auch anderswo, traf man immer wieder auf Szenarien, in denen arrivierte, Karriere gesättigte Leute vielleicht wunderbar über Sex plaudern konnten, der Talk aber kein Garant dafür war, dass man ihn auch hatte, und zwar toll und oft.

 

So geht es auch der Protagonistin in Else Buschheuers erstem Roman. Sie ist eine Art viril-autistische Wiedergängerin von Bruno, dem sexgeilen Bruder aus den „Elementarteilchen“. Sie ist erfolgreiche Werberin (hallo Beigbeder), natürlich absolut zynisch (dito), Anti-Broilerin (Berlinroman!) und permanente Witzereißerin (Zuglektüre). Frauen als Männer haben natürlich auch nur eine Schwäche: Sex. Allerdings unterscheiden sie sich durch ihren Empfangsbereich. Während der herkömmliche Mann nach wie vor dem unabänderlichen Takt seines Trieberls ausgesetzt ist, kennt die Frau als Mann immer noch privilegierte Zonen der Erreichbarkeit, zum Beispiel das Ohr, das von einer Stimme betört wird. Außerdem hat sie noch so viel Phantasie, um aus einem kruden Akt der Wiederherstellung des Energiegleichgewichts (Libido) eine kleine Rollen- und Maskenverteilung zu zaubern, die der Fadheit der tatsächlichen Geschehnisse ein wenig Romantik und Perfidie („Gefährliche Liebschaften“!) verleiht.

 

Schön zu wissen als Mann, dass in gewissen Frauenkreisen also das kleine schmutzige Geheimnis noch nicht ganz ausgedient hat, dass ein kleiner Schuss SM durchaus nicht nur der Inhalt von Briefen sein muss und dass Sex als Wandersystem immer noch eine Männerdomäne ist, imaginär oder real ist hier einerlei. Aber darf man so was überhaupt über Figuren als Karikaturen sagen? Ein unglaublich zwanghaftes Buch, nur ja nicht den Faden des Witzigen verlieren, es gibt demnach auch keine wirkliche Geschichte, keine Strecke (nur die Bahnstrecke dieser Lektüre), sondern nur Amplituden als Stachel des Lachmuskels. Das geht natürlich irgendwann schief, wenn es überhaupt anlief, die letzten fünfzig Seiten sind reine Qual. Ich empfehle, wenn’s denn sein muss, das Kapitel zwölf: „Hassliste – eine Auswahl“, mehr braucht’s eigentlich nicht, vielleicht hat Ihnen Ihr Zugnachbar spannendere Geschichten zu erzählen.

 

Dieter Wenk (09.01)

 

Else Buschheuer, Ruf! Mich! An!, München und Zürich 2000