9. November 2005

Lustquanten

 

Man kann Frau Millet nicht den Vorwurf machen, ein pornografisches Buch geschrieben zu haben. Einen Mangel pornografischer Filme sieht sie in der „stereotypen Vorstellung“ des Orgasmus: „geschlossene Augen, offener Mund, dazu Schreie ausstoßend“. So was gibt es tatsächlich nicht in diesem Buch, das in Frankreich für Aufsehen gesorgt hat, als es im April auf den Markt kam. Und doch: Es gibt wohl kaum einen Bereich der menschlichen Spezies, der weniger unbetretenes Gelände zu verbergen hätte wie der Sex. Das hindert ihn allerdings nicht, nach wie vor in der „Dignität des Dings“ zu stehen. Was einen mal wieder dazu anstoßen könnte, über den Wert des Stereotypen nachzudenken. Denn anzuerkennen, dass es gewisse Clichés bei Millet nicht gibt, heißt noch lange nicht, dass der von ihr beschriebene Sex der verfluchten „Repräsentation“ entkommt.

 

Vielleicht hat sie es versucht: nicht durch das, was sie beschreibt, sondern wie sie es beschreibt. Das Paradox des Buches besteht darin, die heiße Ware Körper in einer äußerst zurückgenommenen, unterkühlten, ja beinah frigide zu nennenden Beschreibung anzubieten. Beim Lesen will partout keine Lust aufkommen. Verweigerungstaktik? Die Distanz der schreibenden Hand? Heißt das, die Stärken des schriftlichen Mediums in Anschlag zu bringen? Gegenüber der totalen Sichtbarkeit der Pornografie? Obwohl umgekehrt ihre Buchstaben nichts auslassen. Detaillierte Schilderungen des locus amoenus, zahllose Vorstellungen von gruppiertem Sex, Gebrauchsanweisungen für den korrekten Umgang mit dem besten Stück am Mann. Die Lust der Catherine M., ein persönliches Rezept. Das Buch hat etwas apothekerhaft Gediegenes. Es vermittelt eine gegenüber heutigen Verhältnissen durchaus Respekt abverlangende Lebensform quantifizierten Sexes, zu der man die damaligen Teilnehmer nur beglückwünschen kann, die aber gewissermaßen nachträglich ihre Lust im Fegefeuer aseptischer literarischer Repräsentation abbüßen.

 

Das ist der eigentliche Skandal, nicht der Exhibitionismus der Leiterin eines Kunstjournals. Diese sexuelle Autobiografie ist so steril wie die strukturalistische Methode in den Humanwissenschaften der sechziger Jahre. Kein Wunder, dass das erste der vier Kapitel mit „Zahlen“ überschrieben ist (es geht natürlich um Gruppensex). Es folgen „der Raum“, „der gekrümmte Raum“ (!), schließlich kommen „Details“. Das heißt, es gibt in diesem Buch keine Handlung, es gibt nur klassifizierte sexuelle Handlungen. Es ist in einem erstaunlichen Maße immanent. Ein Unterkapitel heißt etwa „La faculté d’absorption“ (Die Fähigkeit des Verschwindens/Aufgehens). Und fast will es scheinen, dass der Sex, die Lust am Sex, um so mehr verschwindet, als keine Folie geboten wird, an der er sich abarbeiten könnte. Wie schematisch Sade zum Beispiel auch immer in seiner „Philosophie des Boudoirs“ vorgeht (Sex, Diskurs, Sex, Diskurs...), wie böse das auch immer ist, was er da imaginiert, so ist der Sex immer „eingebettet“, einberaumt in etwas, was mehr als das Boudoir ist. Zum Beispiel eine ganze Metaphysik. Oder auch nur eine Intrige. Oder eine Initiation.

 

Die Liebschaften der Catherine M. sind absolut ungefährlich. Natürlich kann man sich mit ihr freuen, dass sie häufig Sex hatte. Aber Spaß daran hat der Leser, zumindest ich, eigentlich nicht.

 

Dieter Wenk (08.01)

 

Catherine Millet, La vie sexuelle de Catherine M. (Paris 2001, Seuil) ; Das sexuelle Leben der Catherine M., übersetzt von Gaby Wurster, München 2003 (Goldmann)