8. November 2005

Bitte zuhören

 

Angesichts dieser Erzählung ist man geneigt, den sieben Todsünden, die hier alle mehr oder weniger eine Rolle spielen, eine achte hinzuzufügen, die da heißen würde – nach einem oft gebrauchten Wort der Magd Zerline – Seelenlärm. Doch bevor der Bericht der Dienerin über dieses Phänomen und was sich daran anschließt anhebt, wird dem Leser derjenige, an den sich der Bericht wenden wird, vorgestellt, eine männliche Person unbestimmten Alters namens A., der sich an einem Sonntag gegen zwei Uhr nachmittags träge auf dem Kanapee des Wohnzimmers räkelt und ein wenig in der Vergangenheit schweift, um wohl nicht zum ersten Mal zu dem Ergebnis zu kommen, dass in seinem Leben Trägheit gerade in finanziellen Angelegenheiten ein sicheres Moment der Geldvermehrung war.

 

A. ist somit ein verlässlicher Mieter der „alten Baronin“, die in dem Haus zusammen mit ihrer Tochter Hildegard, einem „Bastard“, und eben der Magd wohnt. Diese dringt nun an ebendiesem schläfrigen Sonntagnachmittag in das Zimmer von A. ein und bringt zunächst etwas einsilbig, aber dafür umso verlockender, ein paar Dinge aufs Parkett, die dem Mieter neu sind, von denen er aber auch nicht sagt, dass er noch mehr über sie hören möchte. So schließt er einfach die Augen zum Zeichen dafür, dass die Magd in dem, weswegen sie ihn wohl aufgesucht hatte, nicht nachgeben solle, um womöglich ihr Herz zu erleichtern oder auch bloß ihr Klatschbedürfnis zu befriedigen. A., vielleicht auch der Leser, wird in der folgenden, immer neue Anläufe nehmenden Erzählung etwas darüber verunsichert werden, wo da genau der Unterschied liegt, denn es kommt in ihr alles zusammen: Ausplaudern von Familiengeheimnissen und Schilderungen existentiellster Nöte.

 

Es ist also auch und vor allem eine Liebesgeschichte, und zwar keiner anderen als der Dienerin selbst. Diese ist, wenn auch in verschiedenem Maße, Liebende zweier Herren, nämlich des Gatten der Baronin, der ihr, der Magd, einmal an die Brüste gegriffen hat, danach aber kreuzbrav geworden ist, sehr zum Bedauern von Zerline. Zum zweiten des Herrn von Juna, der selbst ein Anbeter der Baronin ist, von ihr aber nicht nur die letzte Gunst, sondern im Grunde so ziemlich alles auch davor verweigert bekommt. Bis auf das eine Mal eben, das zur Zeugung des Bankerts Hildegard geführt hat und dazu, dass sich die beiden nur noch Briefe schreiben, in denen sie sich, vor allem die Baronin, der Hoffnung hingeben, dass eines Tages vielleicht doch noch die Gelegenheit sich zeigen möge, die sie dahin führen würde, dass sie auf die jetzigen Partner nicht mehr Rücksicht nehmen müssen, weil sie ihnen dann eben alles gebeichtet hätten und sie dann frei für die Zukunft wären.

 

Solche Briefe bekommt auch die Magd in die Hände, und genau sie sind Dokumente dessen, was sie, die Magd, Seelenlärm nennt. Was nichts anderes ist als das Ausweichen vor der Tatsache des Sexuellen. Um es mit Wortkaskaden der Innerlichkeit zu übermalen. Was die neidige Magd wütend kommentiert: „Schockweis hat sie solchen Stunk von sich gegeben, die leere Wasserpute, und er hat’s ertragen, wahrscheinlich mit Zorn und Widerwillen, trotzdem ertragen.“ Da die Magd eine solche Zurückhaltung nicht erträgt und diese nur in Form der geheiligten Instanz der Ehe, wie traurig sie sich auch gestaltet, respektiert, stellt sie sich dem Herrn von Juna in den Weg, um alles von ihm zu fordern, also nichts Geringeres als die Einsetzung in die Nachfolge der Baronin.

 

Was folgt, ist die Schilderung eines handfesten Kriminalfalls, in den alle bisher erwähnten Personen verwickelt sind und von dem hier nur so viel gesagt werden soll, als dass am Ende ein großer Verzicht steht, dessen Folgerichtigkeit ihn davor bewahrt, ein weiterer Fall von Seelenlärm zu sein. Will man den hier geschilderten Geschlechterbeziehungen mehr Bedeutung beimessen als die, die sie in dieser Erzählung spielen, so lautet das etwas traurige Ergebnis, dass Begegnungen sich in ihrer Einmaligkeit erschöpfen, sich in einem endlosen, faden, ereignislosen „Seinesgleichen geschieht“ entwerten oder auf eine Tragik hinauslaufen, die die Begegnung nicht zu einer Beziehung werden lässt.

 

Aber glücklicherweise gibt es ja noch, nachdem die Magd ihre Erzählung beendet hat, den Wiedereintritt in die Rahmengeschichte, die selbst das Zeug dazu hätte, eine eigene Geschichte zu werden. Diese könnte dann aber nicht mehr von Zerline erzählt werden, aber vielleicht von Hildegard, die jeden Abend, bevor sie ins Bett geht, vor der Tür des Mieters, also A.’s, steht und vor Verlangen beinah zu Grunde geht. Aber eben nur beinah. Auf jeden Fall weiß A. jetzt Bescheid. Wir wünschen viel Glück, denn am Ende der Reihe seiner kreisenden Gedanken an diesem etwas trägen Sonntagnachmittag, nachdem die Magd ihn wieder sich selbst überlassen hat, steht nichts anderes als der dann doch zugelassene Wunsch nach – Kindern.

 

Dieter Wenk (08.01)

 

Hermann Broch, Die Erzählung der Magd Zerline, Frankfurt am Main 1988 (Suhrkamp); von dieser Erzählung liegt auch eine Hörkassette vor (Hamburg 1995)