6. November 2005

Im Labor der Extreme

 

Nur zwei Buchstaben unterscheiden die Astronomie von der Astrologie. Und vom Wahnsinn trennt sie beide nur ein schmaler Grat. Bruder und Schwester Zweig haben es nicht ganz leicht miteinander. Marthe ist Kunstdozentin, Frank Physiker. Sie sind sich nicht eben ähnlich. Sie neigt zur Esoterik, er zum Vernünfteln. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters machen sich die Geschwister an die Auflösung seines Haushalts und geraten dabei aneinander. Mit Sätzen wie "Ich finde einfach, die Physik ist spirituell zu brutal" bedrängt Marthe ihren Bruder, sich Sphären jenseits seiner physikalischen Logik zu öffnen. In der großen Einsamkeit der Observatorien aber, weit oben auf den von Lichtverschmutzung freien Berggipfeln, kann diese Art Offenheit schnell lebensbedrohlich werden. Man dreht durch. Einem Kollegen passiert ebendies, und Frank muss sich vor der EU rechtfertigen. Das Ergebnis ist Ulrich Woelks neuer Roman "Die Einsamkeit des Astronomen".

 

Schreiben ist auf Dauer keine sinnvolle Beschäftigung für einen Physiker, weil sich die Präzision der Sprache nicht beliebig steigern lässt", hieß es in Ulrich Woelks Romandebüt "Freigang", der 1990 erschienenen Vorgeschichte zu seinem aktuellen Buch. Trotzdem wandte sich auch der 1960 geborene Ulrich Woelk, nachdem er nach einem Physikstudium einige Zeit als Astrophysiker mit dem Spezialgebiet Doppelsterne tätig war, ab 1994 ganz der Romanschriftstellerei zu und bestückte viele seiner Romane mit Elementen aus seiner wissenschaftlichen Vergangenheit. Anfang des Jahres erst konnte man von ihm die Sommererzählung "Einstein on the Lake" lesen.

 

Und folglich kann auch der Astrophysiker Frank Zweig nicht vom Schreiben lassen. Er soll einen Bericht verfassen, um die Vorgänge in der Schwarzschild-Sternwarte auf den Fernstein-Gipfel zu klären. Drei Millionen Euro wurden in den Sand gesetzt, weil die Kuppel des Observatoriums während eines Schneetreibens geöffnet wurde und die teuren astronomischen Instrumente dadurch zerstört wurden. Nun sitzt der Beschuldigte Lozki in der Psychiatrie. Der Icherzähler wiederum wird beschuldigt, sich über den Zustand seines irren Kollegen im Klaren gewesen zu sein und ihn dennoch allein in der Sternwarte zurückgelassen zu haben.

 

Doch der Bericht, der Frank aus den bürokratischen Schlingen befreien soll, schweift ab, und was wir lesen können, wird der EU-Kommission kaum etwas nutzen. Das weiß der Erzähler auch und entschuldigt sich bei den Damen und Herren Forschungsfunktionären dafür. Es kommt ihm vor, als löse er eine komplizierte Gleichung mit einer stattlichen Reihe von Unbekannten. "Offizielle Leser dieser Zeilen! - Das Universum ist ein Labor der Extreme."

 

Der Schriftsteller Woelk liebt Gegensätze. Wie in seinem letzten Roman, dem Krimi "Die letzte Vorstellung", in dem er Gut und Böse, Ost und West, RAF und Stasi gegeneinander ausspielte, nutzt er auch in "Die Einsamkeit des Astronomen" die bis ins Klischee hinein übertriebenen Extrempositionen seines Personals wunderbar aus. Die Spannung zwischen Physik und Esoterik, Rationalität und Emotionalität durchzieht das gesamte Buch. Doch bei genauerem Hinsehen sind die Gegensätze relativer, als es die stereotype Sprache der Protagonisten vermuten ließe.

 

Die anfangs gefühlvoll erscheinende Schwester, deren Kinesiologin ihr bescheinigt, seit Papas Tod emotional nicht mehr im Gleichgewicht zu sein, entwickelt sich plötzlich zur pragmatischen Endverwalterin ihres Vaters. Die Grabpflege wird flott gelöst und mit einem Kunstevent, bei dem sie ihre Studenten zu Mozarts "Don Giovanni" im Garten einen Komtur aus den Erbschaftsbeständen bauen lässt, löst sie die leidige Haushaltsauflösungsfrage auf geschmacklos groteske Weise.

 

Frank dagegen versucht ständig, seine Rationalität zu rechtfertigen: "Wem schadet es, dass ich vernünftig bin? Ist Vernunft therapiebedürftig? Was fehlt denn? Eitelkeit und Habgier? Oder Esprit und Magie? Ich bin Astronom und kein Zauberer." Andererseits ist er es, der emotional an dem väterlichen Erbe hängt und mit der Irrationalität seines psychisch kranken Kollegen Lozki sympathisiert. "Wir sehen einen winzigen Krümel vom Kuchen der Realität", ist Lozki sich damals sicher gewesen und hielt deshalb zu John Cages "Four Walls" nach außerirdischem Leben Ausschau. Das Musikstück tat schon dem Komponisten nicht gut. Zwei Jahre nach Vollendung des Werks zog Cage ernsthaft in Betracht, das Komponieren aufzugeben und sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, wandte sich aber stattdessen der asiatischen Philosophie und dem Zen-Buddhismus zu. Der stets mit weißen Baumwollhandschuhen bewaffnete Exzentriker Lozki wählt stattdessen den autistischen Weg. Von seinem Neurologen wird er darin nur bestätigt: Das Gehirn ist absolut und die Welt relativ. Was in unseren Köpfen stattfindet, ist die Wahrheit.

 

Das ist zwar eine vollkommen logische Position, allerdings eine einsame. Und wer nicht in der Lage ist, wie seine Kollegen über die Existenz außerirdischen Lebens "mit der hartnäckigen Routine eines alten Ehezwistes über die richtige Kochzeit von Frühstückseiern zu streiten", bleibt eben für sich.

 

Woelk persifliert in "Die Einsamkeit des Astronomen" das Genre Wissenschaftsroman und macht die Aufzeichnungen des Frank Zweig geschickt und komisch zu einer psychoanalytischen Offenbarung. Die Beobachtung verändert das Beobachtete. So besteht der Witz in diesem erzählerisch penibel konstruierten Roman im dauernden Wechsel der Perspektiven und Lebensanschauungen, auf dass dem Leser das Teleskop nur so um die Ohren fliegt.

 

Gustav Mechlenburg

 

Ulrich Woelk: "Die Einsamkeit des Astronomen". Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, 288 Seiten, 18,95 Euro

 

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