6. November 2005

Anders als die anderen

 

Angenommen, Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler hätten am Ende des „Dritten Reichs“ nicht Selbstmord begangen und wären in Nürnberg auch nicht zum Tode verurteilt worden, sodass sie Zeit gehabt hätten, ihre Memoiren zu schreiben, um sich zu rechtfertigen. Mit Sicherheit würde man diese Schriften anders lesen als die „Erinnerungen“ Albert Speers, was auch immer sie zum Inhalt gehabt hätten. Kein Leser hätte in den drei Fällen Pardon gegeben, während der Architekt Hitlers durchaus Sympathie zu erwecken vermag. Was erstaunlich ist, war er doch als Rüstungsminister in den 40er Jahren einer der mächtigsten Männer Deutschlands. Der unter anderem daran beteiligt war, Fremdarbeiter und Insassen von Konzentrationslagern in der Kriegsindustrie zu beschäftigen, zum Beispiel in dem berüchtigten Mittelwerk im Harz, wo es darum ging, die Wunderwaffe V2 zusammenzubauen. Genau dafür hat ihn das Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg 1946 für 20 Jahre Gefängnis verurteilt.

 

Aber was war an Albert Speer anders als bei den anderen Nazigrößen, warum sein Werdegang im Grunde nachvollziehbar? Hat er die Nürnberger Richter durch seine radikale Offenheit und seine unaufgezwungene Verantwortungsübernahmebereitschaft beeindruckt? Er, der von einer Gesamtverantwortung jedes einzelnen Machtinhabers über die Gesamtverbrechen der Nazidiktatur sprach. Und sich allein dadurch schon das Todesurteil verkündet hat, sollte man meinen. Albert Speer, die ehrliche Haut? Das schon, aber es ging doch sicherlich um mehr. Vermutlich ging es bei Speer um einen bestimmten Typus von modernem Menschen, den man nicht einfach umbringen konnte, ohne zugleich den Typus zu stigmatisieren. Auch wenn dieser nicht sonderlich sympathisch erscheint als jemand, der seine Dienste anbietet völlig unabhängig davon, wer diese in Anspruch nimmt.

 

Albert Speer hat dieser Disposition wohl ziemlich genau entsprochen. Nicht als Hitlers Architekt geboren, war Hitler jedoch der erste, der auf ihn aufmerksam wurde. Und der ihm eine glänzende Zukunft geboten hat. Was aber eben nicht heißt, dass Speer nicht auch für andere Herren hätte arbeiten können. Er war der Architekt der Nazis, aber er war kein nationalsozialistischer Architekt. Sein Bauch war vorbereitet für alles, er hätte auch anderes verdauen können. Das, was man heute Disponibilität und Flexibilität nennt und preist, muss man in Speers Fall aus der Richterperspektive wohl als Mitläufertum bezeichnen, als blinden Opportunismus eines karrieresüchtigen Jungarchitekten, was sicherlich nicht ganz falsch ist. Letztlich aber doch nur Balsam auf das Räderwerk der ethischen Kontrollinstanz. Weil damit nichts erklärt wird. Gesellschaftliche „Verblendungszusammenhänge“ gibt es nicht einfach so, man konstruiert sie, aktuell die experimentellen Täter, nachträglich die aufarbeitenden Forscher und Kritiker.

 

Zunächst ging es beim Architekten Speer um ein kapitalistisches Tauschverhältnis: Ware, Konstruktions-Know-how gegen Geld und Anerkennung. Eher zufällig war er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Platz. Anders wird auch heute nicht über gesellschaftlich-beruflichen Erfolg gesprochen. Diese rein technische Sicht auf Verwertungsverhältnisse war auch damals nicht neu. Aber mit ihr konnte sich das „Dritte Reich“ immer weniger identifizieren, da es zu seiner Definition gehörte, Positionen charismatisch zu personalisieren und Funktionssysteme zu ideologisieren. Die Atomphysik etwa hatte bei Hitler allein deshalb keine Chance, weil sie als gewissermaßen unsichtbare jüdischen Charakters war. Um so mehr musste es vermutlich auffallen, besonders im Ausland, wenn Funktionsträger im damaligen Deutschland in erster Linie durch ihren Sachverstand und ihre Eigenbereichskompetenz an der Stelle standen, wo man nationalsozialistisch infiltrierte Machtmenschen vermutet hätte. So konnte man im englischen „Observer“ vom 9. April 1944 die für Albert Speer, der zu diesem Zeitpunkt längst als Rüstungsarchitekt arbeitete, äußerst schmeichelvollen Zeilen lesen:

 

„Speer ist gewissermaßen heute für Deutschland wichtiger als Hitler, Himmler, Göring, Goebbels oder die Generale. Sie alle sind irgendwie nichts als Mitwirkende dieses Mannes geworden, der tatsächlich die riesige Kraftmaschine führt und aus der er ein Maximum an Leistung herausholt. In ihm sehen wir eine genaue Verwirklichung der Revolution der Manager... Er hätte sich jeder anderen politischen Partei anschließen können, soweit sie ihm Arbeit und Karriere gab... reiner Techniker... Gerade das Fehlen von psychologischem und seelischem Ballast und die Ungezwungenheit, mit welcher er die erschreckende technische und organisatorische Maschinerie unseres Zeitalters handhabt, lässt diesen unbedeutenden Typ heutzutage äußerst weit gehen.“

 

Speer ist der Machertyp, der heute von gebeuteltem Konzern zu gebeuteltem Konzern gehen würde, um sie auf Vordermann zu bringen. Der sich in Genua in Finanzstatistiken vertieft hätte, ohne auf die Stimmen auf der Straße zu hören. Der Millenniumsdome in jeder Größenordnung gebaut hätte. Und dessen Werdegang heute nur noch in Zeitungen, aber wohl nicht mehr in Den Haag verhandelt würde, denn Speer ist nicht Himmler. Ihre Plätze hätten sie nicht tauschen können. Denn vor diesem Abgrund hatte Speer bis zum bitteren Ende immer die Augen geschlossen. Als Manager hat er dabei völlig korrekt gehandelt. Aber auch die Managerrevolution kann nicht bestreiten, dass die Funktionsbeschreibung einer Person als Manager eine durchaus kontingente ist. Nicht Wissen, sondern Unwissen ist Macht.

 

Dieter Wenk (08.01)

 

Albert Speer, Erinnerungen, Berlin 2005 (Ullstein)