5. November 2005

Listen to what is written

 

Der „Phonozentrismus“ stand unter dem schwer wiegenden Verdacht, die Stimme gegenüber der Schrift zu privilegieren. Der jüngste „turn“, der „iconic turn“, postuliert die Herrschaft des Bildes auf eine Weise, dass einem die anderen Sinne vergehen. Danach müsse dem Phonozentrismus ob des Optozentrismus die Puste ausgegangen sein. Liest man Untertitel wie die von Harro Segeberg zu seiner in diesen Sammelband einführenden Vorbemerkung, nämlich: „Warum sich die Medienwissenschaft für den Ton interessieren sollte“, dann ist das ein Beleg dafür, dass besagte Wissenschaft vornehmlich eine bildzentrierte ist und dass es an der Zeit wäre, dem ganz banalen medialen Ereignis als plurimedialem Phänomen gerechter zu werden dadurch, dass man etwas genauer hinhört, statt immer nur zu glotzen.

 

Dass man dazu aber immer noch, bis auf weiteres, die Augen aufmachen muss, gehört zu den Paradoxien, die publikationslogisch eine Schirmherrschaft nötig macht, der man eigentlich aus dem Weg gehen wollte. Schaut man sich die einzelnen Sektionen dieser Publikation an, wird sofort klar, dass es nicht darum gehen kann und soll, den einen Sinn gegen den anderen auszuspielen – Film und Fernsehen, um die es in den beiden ersten Sektionen geht, sind Medien, in denen sich Bild und Ton in die Hände spielen. Das gilt bekanntlich auch für den Stummfilm, Karl-Heinz Göttert macht noch einmal auf den „Ton vor dem Tonfilm“ aufmerksam, zum Beispiel mittels der schon lange ausgestorbenen Kinoorgel.

 

Einen interessanten komparatistischen Beitrag liefert Joseph Garncarz mit seinen Überlegungen zur „Synchronisation fremdsprachiger Filme“. Anders als zum Beispiel in den Niederlanden, das die meisten ausländischen Filme mit Untertiteln zeigt, wird in Deutschland, Italien und Spanien fleißig synchronisiert. Das habe, so Garncarz, einen geschichtlich-politischen Hintergrund. Als faschistische Länder hätten besagte Nationen in den 30er Jahren großen Wert auf die eigene Sprache gelegt, was eine Untertitelung ausgeschlossen habe. Und dieses Procedere habe sich bis in die Jetztzeit halten können. Die Synchronisation habe aber überhaupt eine gewisse Anlaufzeit benötigt, weil der Zuschauer sich erst daran gewöhnen musste, dass ein agierender Körper mit einer anderen als der gewohnten (oder erwarteten) Stimme gezeigt wird. Keine Frage, dass heute Originalfassungsseligkeit nicht in erster Linie sich snobistisch brüsten muss; dahinter steht immer noch der Anspruch auf größere Authentizität, auch wenn beim ungarischen Original mit französischen Untertiteln die eine oder andere Feinheit dem Ohr und Verstand entgeht.

 

Christian Maintz informiert über „Bildtonmusik im Film“. Die schwierige Frage der Abgrenzbarkeit von handlungsinhärenter und aus dem bloßen Off kommender Musik drückt sich nach wie vor in einem unzureichenden Begriff aus: Bildtonmusik meint keine Programmmusik im Gegensatz zu absoluter Musik, sondern will sagen, dass der zu hörende Sound direkt mit der Handlung verknüpft ist und nicht nachträglich dazukomponiert oder -gespielt. Bildtonmusik betreibt also zum Beispiel der Mundharmonika spielende Westerner, nicht aber das Raumschiff, zu dessen Weltraumgleiten Töne von Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ erklingen – ein Beispiel für Fremdtonmusik.

 

Die dritte Sektion verlässt den Medienverbund Bild-Ton und widmet sich vor allem Tonträgern, akustischen Speichermedien, dem Rundfunk und den narrativen Eigengesetzlichkeiten des Hörspiels. Während Heinz Hiebler eine konzise „Medienkulturgeschichte der Tonträger“ liefert, bleibt Daniel Gethmann ganz beim frühen Rundfunk und beschreibt das Sprechen am Mikrophon als eine bisweilen haarsträubende „Technologie der Vereinzelung“. Der horror vacui habe eine strenge Vorschrift des Sprechens nach sich gezogen, und zwar ganz im Sinne eines Vorlesens.

 

Der am wenigsten rechtfertigungsbedürftige Teil dieser auf ein Symposion zurückgehenden Veranstaltung ist sicherlich der abschließende über „Multimedia und neue Medien“. Rolf Großmann berichtet in seinem einführenden historischen Beitrag über die medien-materialbezogenen ästhetischen Strategien von „Collage, Montage und Sampling“, vielleicht der gewichtigste Aufsatz des Bandes. Nicht zuletzt deshalb, weil hier Fragen angerissen werden, deren Lösungen immer noch ausstehen, aber vielen unter den Fingern brennen, wie etwa die Frage des Urheberrechts im Bereich digitaler Klangerzeugung. Wenn, wie seinerzeit von Friedrich Kittler postuliert, der Geist aus den Geisteswissenschaften vertrieben und auch sonst nicht mehr sein (Un)Wesen treibt, gäbe es allen Anlass, die Frage nach dem geistigen Eigentum an welchen medialen Daten auch immer neu zu überdenken, was ja auch gemacht wird. DJ Shadows „Endtroducing“ (1996) hat jedenfalls nicht den vielleicht erwarteten Ruck gebracht.

 

Der stilistische Touch des Bandes ist sehr universitär, aber der eigentliche Adressat, die Medienwissenschaft (siehe das Anfangszitat) kommt ja eben daher; außerdem muss man ja nicht gleich mit dem Megaphon der „Sonifikation“ durchs Internet rennen, wie das Sören Ingwersen in seinem gut gemeinten Beitrag einer akustischen Stütze des virtuellen Bildes vorschlägt. „Sound“ hat das Zeug, von sich hören zu machen.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, hg. von Harro Segeberg/Frank Schätzlein, Marburg 2005 (Schüren), Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GFM), 388 Seiten, 29,90 €