4. November 2005

Böcklins Traum

 

Als ob man alles mit einem Zeigestock gezeigt bekäme. Und den Stock halten die Figuren selber, abwechselnd, mal der Alte, mal der Diener, am Ende der Student, ein junger Mensch, der das alles noch vor sich hat, zumindest nicht mehr getäuscht werden muss – wie am Anfang. Da heißt es von den Vätern, dass sie nie lügen. Nun erfährt der Student aber von tragischen Umständen in zweierlei Fassung, die nicht zugleich war sein können. Welcher Vater-Fassung soll er glauben, der seines eigenen, wonach dieser dem Alten finanziell nichts schuldig geblieben ist, oder der des Alten, mit dem er gerade spricht (und der sich für ihn einzusetzen scheint), der das genaue Gegenteil behauptet? Aber nichts ist, was es scheint, und alle Verhältnisse des im Grunde leicht überschaubaren Anwesens, das die Bühne zeigt – Parterre und erster Stock eines Hauses samt Vorplatz –, sind vertrackt, weil der Schein trügt. Es lauert immer noch eine andere Version im Hintergrund.

 

Wer ist zuletzt der Richter, wer der Henker, denn alle wollen allen die Maske abreißen, wenn es nicht so schwer und reich an Konsequenzen wäre. Und so bleibt alles, wie es ist, mit all den Ritualen, die die Menschen schon lange in Gespenster verwandelt haben, in hinter Tapetentüren hausenden Mumien mit den Artikulationsweisen von Papageien, in kränkelnde Jungfrauen, die sich in Zimmern verschanzen, deren Anordnung und Bestückung einer Symbolik das Wort reden, die nie Gefahr läuft, Ernst genommen zu werden und Bewohner aus ihrem buddhistischen Schlummer erwachen zu lassen. Es gibt Kristallisationspunkte des sozialen Abgrunds, die auf ewig ihre Temperatur halten und dann doch, wie hier, als mal etwas ins Rollen zu kommen scheint, ihre eingerostete Vertäuung zu erkennen geben.

 

Das Stück fängt ja ein wenig an wie ein normales Stück, man erlebt das mögliche Heldentum eines jungen Mannes, eben des Studenten, der sich tapfer angesichts eines Hauseinsturzes verhalten hat. Später kommen Zweifel, die der Student selbst nährt, obwohl die Zeitung ihn schon feiert, und vielleicht war er nur der unwissende Agent eines anderen, des Alten, der auf seine zwielichtige Art versucht, die Menschen an sich zu binden. Der Stein rollt, über den Studenten verschafft sich der Alte Zugang zum Haus des Obersten mit seiner kranken, hyazinthenverliebten Tochter, um diesem ein wenig die Wahrheit über das Kind zu sagen, dass es nämlich von ihm sei, dem Alten.

 

Von da ab hört das gegenseitige Kratzen nicht mehr auf, jeder bekommt seinen Auftritt, alles geht schön geregelt zu (Gespenster, ja – aber eben auch Sonate mit schöner Hauptsatzform der genealogischen Abstammung), man stirbt nach Aufforderung und man ist auf jeden Fall jenseits von Ibsen, das Maskenabreißen bringt nämlich gar nichts. Was aber dann? Die bloße Hoffnung auf ein anderes Leben, mit anderen Akteuren, das Abschlusstableau verheißt dennoch nichts Gutes, man sieht Böcklins „Toteninsel“: „Von der Insel her tönt leise, angenehm klagende Musik.“ Ist das die Möglichkeit?

 

Dieter Wenk (10.05)

 

August Strindberg, Gespenstersonate, in: A. S., Meisterdramen, München 1981 (dtv)