3. November 2005

Depressive Romantik

 

Wen oder was man erzählt bekommt, kann man zuletzt nicht benennen. Um Marlene geht es also gar nicht, und die schwierige Schwester bleibt namenlos. Ihr Schicksal? Sie ist eine Gestrandete. Eine Kommune junger Landarbeiter hat sie aufgenommen. Man muss um sie fürchten. Das Bauernhaus ist wie eine letzte Raststätte vor dem letzten, sehr kurzen noch ausstehenden Weg, der möglicherweise selbstherrlich beendet wird. Wo soll aber für diesen letzten Gewaltakt die Energie herkommen? Lebensmüde, ja, aber zum Sterben auch zu schwach. Diese Frau hält nichts mehr zusammen. Eine ehemalige Deutschlehrerin, die kein Erziehungsauftrag mehr vor die Klasse bringen wird. Sie streift ein wenig durch die Gegend, abfallen tun Erinnerungsstreifen, Schwesterbeziehungsfragmente, Begegnungen gemeinsamer Freunde in Paris, Anekdoten utopischen Wirtschaftens als Märchen der permanenten Neudefinition, das in der Wirklichkeit nur psychotische Ableger wirft.

 

Anders als Marlenes Schwester wissen sich andere zu helfen, jedenfalls wiederum in Anekdoten, einer Mischung aus sozialistischen Verbrüder- und -schwesterungen und Self-made-man-Fantasien aus dem 18. Jahrhundert. Kein Wunder, dass Segmente der Frühromantik nicht fehlen dürfen, Vampirgeschichtsschnippsel und Figuren, die die gleiche Tür benutzen, wenn sie in der Prosa oder im Erzählten umhergehen. Marlenes Schwester dagegen war entweder zu nah dran (zum Beispiel an Marlene, ihrer späteren Adoptivschwester) oder zu weit weg, zum Beispiel vom Leben insgesamt. Sie kam nie an, in der Wirklichkeit. Den besten Kommentar gibt einer der Kommunarden: „Fürchtest du nicht manchmal, fragte der junge Landarbeiter, nachdem er ihre Niedergeschlagenheit geduldig studiert hatte, dass deine Gefühle einem überwundenen Kapitel der Gesellschaftsgeschichte angehören könnten?“ Für einen Landarbeiter ist das mehr als genial, es ist prophetisch, und nach dreißig Jahren Abstand zeigen sich die 70er Jahre als das, als was sie schon damals dunkel empfunden wurden, als deprimierendstes Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

 

Ebenfalls eine fragile Existenz am Rande der Welt ist Protagonist der zweiten Erzählung mit dem Namen „Theorie der Drohung“. Ein Mann um die dreißig, namenlos wie Marlenes Schwester, wartet in einer abgeschiedenen Hütte auf sein Coming out als Schriftsteller, und natürlich auf einen Telefonanruf. Es passiert gewissermaßen alles zugleich. Aus einem Moment des Unverhofften, nicht Kalkulierten; wie zum Spaß hebt der junge Mann den Hörer von der Gabel, und in dem Moment ist er verbunden. Ein Dr. W. ist am Apparat, ein Psychiater und Freund von früher, er habe in seiner Klinik eine Frau, die laut nach dem von Dr. W. Angerufenen schreie. Etwas später steht der angehende Schriftsteller vor einer unbekannten Frau, die vorgibt, ihn zu kennen, ja, die als Usurpatorin seiner Vergangenheit auftritt, denn nicht jene S., sondern sie habe in den Jahren 1968-70 die Zeit mit ihm verbracht. Texte, auch gesprochene, sind dazu da, dass man sie umschreibt. Nichts anderes macht die Unbekannte, Lea mit Namen. Schwach wie Marlenes Schwester, kennt auch der junge Mann keinen Schutz vor fremder Energie. Er lässt sich sein Blut absaugen. Es bestand eh nur aus weißen Blätter, zumindest ist das der Effekt des wüsten Palimpsests, aus dessen unleserlicher Ablagerung die Beziehung mit S. sich aufbaute. Erst mit Lea kommt Frischluft ins Lesezimmer. Mit Schrift wird sie auf Distanz gebracht.

 

Ganz nach Mallarmés Diktum verschwindet Lea in dem Maße, als sie auf dem Papierbogen Kontur gewinnt. Aber dem Autor ist unterdessen seine Identität total abhanden gekommen. Er schlüpft vielmehr in die Körperrolle Leas, die als Person ja auch viel interessanter ist als er und schreien, begehren und gute Lügengeschichten erzählen kann. Zuletzt geht’s dem Mann als Frau ganz gut. Vielleicht kann ihn/sie S. jetzt auch wieder besser lesen. Aber hilft das dem anderen Leser, der sich mit dem Verschwinden des Mannes abfinden muss? Botho Strauss’ Einstieg in die Literatur braucht die Entkörperung von Mann und Frau, ihre in der ersten, seine in der zweiten Erzählung. Noch herrscht das literarische Paradigma aus Frankreich, vor allem das Blanchots. Lauter letzte Menschen. Die fiktive Drehung, direkt aus der Wirklichkeit bezogen, die sie doch gnadenlos dementiert.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

Botho Strauss, Marlenes Schwester. Zwei Erzählungen, München 1975 (Hanser)