Verschlafen
Casanova schreibt an einer Stelle seiner Lebensgeschichte, dass es ihm einmal passiert sei, einen ganzen Tag verschlafen zu haben. Vielleicht gab es gute Gründe, Schlaf nachzuholen, aber nichtsdestotrotz empfand er diesen Nicht-Akt als unentschuldbar, als großes Versäumnis, als Verlust an seinem ganz auf Aktivität eingestellten Leben. Der Mann wollte was und hat es gekriegt, ein totaler Mensch.
Der junge Mann in Sabus Film hatte auf jeden Fall gute Gründe, 24 Stunden mehr zu schlafen als gewöhnlich. Er wacht an einem Montagmorgen in einem Hotelzimmer auf, das er in der Nacht von Samstag auf Sonntag in volltrunkenem Zustand bezogen hat. Er weiß auch gar nicht mehr, wie er überhaupt dahin gelangt ist und staunt mächtig, als er die Zeitung vom Flur holt und merkt, dass ihm ein Tag abhanden gekommen ist. Nach und nach fallen ihm Situationen ein, die in Rückblenden, schön der Reihe nach, verabreicht werden. Erste Station: Trauerfeierlichkeiten eines jüngeren Bruders. Die Familie kniet ernsthaft vor dem Sarg, doch schnell untergraben komische bis aberwitzige Bemerkungen und Konstellationen den Ablauf. So stellt eine Schwester fest, dass der Sarg in der falschen Richtung steht und man ihn nach Norden drehen müsse, sonst geschehe Unglück. Über dem Sarg befindet sich ein Foto der schönen Leiche, das einen eher an ein beim Friseur ausliegendes Modejournal denken lässt, aber Friseur war er ja, nur dass die Erotik auch in dieser Halle nicht aufhört, Frauen wie Männer zu betören und sie animiert, über die Vergänglichkeit ihres Lebens nachzudenken. So hätte man ja alles noch mal in die richtige Richtung gelenkt, aber dann ertönt ein Telefonklingeln und die Gemeinde erfährt vom Arzt mit Entsetzen, dass der Herzschrittmacher des Toten nicht ausgestellt sei und man diesen abstellen müsse, sonst würde die Leiche explodieren. Sie explodiert trotzdem, denn unser junger Mann, dazu auserkoren, das entsprechende Kabel zu durchtrennen, schneidet das Falsche durch.
Später trifft er seine Freundin, der er von seinem Unglück erzählen will, aber sie lässt ihn nicht und er druckst lange herum. Dann ist es heraus, er lacht sich halbtot, nur seine Freundin ist weg. Da hilft nur ein alkoholisches Getränk in einer Bar. Ein Chiromant erlaubt sich, ihm die Wahrheit über sich zu sagen. Der Typ kriegt sich gar nicht mehr ein, er sieht ja schon alles, was passieren wird, aber er ist diskret und lässt nur das Beste raus, nämlich dass eine schöne Frau, die auch schon anwesend ist, eine große Rolle im Leben des jungen Mannes spielen wird. Dieser wird immer zutraulicher, und so lacht er mit dem Handleser sich ein zweites Mal halbtot. Als er gutgelaunt und doch etwas angenässt vom Pissen zurückkommt, hat die Belegschaft gewechselt. Dunkle Gestalten bevölkern den Raum. Dann setzt er sich neben die Schöne. Ihr Macker lädt ihn zu einem Getränk ein, zu noch einem, und er trinkt und trinkt, das gefällt dem Bösewicht sehr gut, der ihn mit sich nach Hause nimmt. Aber man spielt nicht ungestraft mit der Yakuza. Vor allem nicht, wenn man volltrunken ist. Ein Schuss löst sich, und der Sohn des Bosses ist tot. Auf dem Weg nach draußen erledigt er noch zwei weitere Mitglieder, nicht ohne wieder seine Lachnummer abgespult zu haben. Aber angesichts einer Knarre lacht man natürlich anders. Der Bedrohte ist auf Entspannung aus, der Bedrohende auf Kontrolle, dazwischen lauert der Tod.
Wieder auf der Straße kriegt er mit, wie ein Typ von einem Gaunerpärchen um seine Aktentasche erleichtert wird. Das kann er nicht zulassen und knallt die beiden ab. Schlimme Dinge sind also passiert, und als er im Hotel noch mal zur Zeitung greift, liest er auch schon, was passiert ist. Auch im Fernsehen laufen auf allen Sendern Diskussionen über die Übel Alkohol und Waffen. Dann sieht er in einer Nachrichtensendung ein von Polizei umstelltes Hotel. Böses schwant ihm. Es ist natürlich sein Hotel. Panik bricht aus. Er war doch ein ganz normaler Mensch, hat nie gesagt, was er dachte, und jetzt das, passiert quasi ohne sein Zutun. Aber das muss man erst mal den anderen erklären, die natürlich einen völlig anderen Diskurs abfahren. Er will sich umbringen, aber dann fällt ihm ein, sein Testament zu schreiben. An Vater und Mutter und Freundin, schöne Nebensächlichkeiten trösten unser Opfer, der aber dann doch wieder zur Flasche greift und in wachsendem Zorn alles wieder zerreißt. Mittlerweile steht ein Sonderkommando vor seiner Tür und versucht einzudringen. Was jetzt folgt, ist traumhaft heldisch. Er überwältigt schwerelos die japanische GSG9 und nimmt auf dem Weg nach draußen den Einsatzführer als Geisel.
Dann steht er vor der Polizei-, Journalisten- und Schaulustigenmeute. Die Flasche hat er mitgenommen. Er wird zum Prediger. Provoziert Polizisten durch Verletzlichkeit. Schafft es, erst einen, dann alle zusammen von der Sinnlosigkeit von Waffen und Gewalt zu überzeugen. Ein Abgesandter Gottes? Aber ja. Gewehre und Mikrofone fallen in einem Atemzug. Ein kleines dionysisches Spektakel bricht vom Zaun. Wieder sein großes Lachen. Aber dann fällt ein Schuss, und unser Held hat ein Loch im Bauch. Einer ist immer da, der nicht zugehört hat. Der GSG9-Chef, der feige von hinten losgeballert hat, ist halt nicht auf dem neuesten Stand der Menschheitsentwicklung, immer noch verfangen in Kategorien wie Rache und Vergeltung und Pflichterfüllung. Schade. Gleich ist der Zauber vorbei, und der Status quo ante ist mir nichts dir nichts wiederhergestellt. Messianische Plötzlichkeiten vergehen wie Schall und Rauch und überhaupt wie das ganze sinnlose Leben. Die Befriedung ein Traum. Und genauso ist es auch. Plötzlich befinden wir uns wieder im Hotelzimmer, das utopische Moment in Nichts zergangen und die Polizei fängt brutal an zu hacken. Nägel mit Köpfen.
Aber anders als bei Poe gibt es eigentlich nichts zu bekennen, denn dies war keine psychologische Geschichte. Keine Dielenbretter müssen aufgerissen werden, keine Entlarvungsverführung war nötig, es ging ja alles von selbst, geführt von der Hand des Zufalls, der den Dingen ihre böse Seite entlockte und den Menschen ihre Ausgesetztheit. Und die Moral von der Geschichte? Leute, trinkt keinen Alkohol, und wenn doch, bleibt schön zu Hause in euren vier Wänden, dort gibt es immerhin Fernsehen zum Abarbeiten der nun doch moralisch aufwertbaren Trägheit.
Dieter Wenk (07.01)
Sabu (Hiroki Tanaka), Monday, Japan, 1999