Mächtig tranig
Ein anstrengendes Buch. Ein schlecht gelauntes. Als Leser fühlt man sich auf die Probe gestellt. Wird man den Romangestalten die Aufmerksamkeit entziehen, wozu sie einen ständig herausfordern? – man wird es, außer man interessiert sich für Autoren, denen die Belastung und Ausweitung der Rezeptionstechniken wichtig ist.
Auffälligstes Merkmal beim Durchblättern des Buches sind orthografische Sonderfälle. Nicht vereinzelt, sondern zu einem neuen Strauß Regeln gebunden. So stehen z.B. Ausrufezeichen innerhalb eines Satzes vor dem Wort, welches sie betonen. Und der Nachdruck, den man mit dieser neuen Regel erzeugt, ist ein echoner Ausruf, mit kurzem effektvollem Vorhalt. Wie man das aus gespielt empörten Gesprächen kennt.
Die Aufweichung der starren Regeln deutscher Rechtschreibung zugunsten einer Ausdrucksvielfalt wird bei Jirgl allerdings zu einem eigenen, eben dem Jirglschen starren Regelverhau, mit anderer, aber genauso wenig Ausdrucksvielfalt, nur irritieren tut es. Er macht sich seine eigene Regel und das ist in dem Romantitel ja auch schon angekündigt.
„Abtrünnig“ ist ein Roman aus Deutschland und Jirgels Bockigkeit gegenüber deutschen Reglements ist auch sehr deutsch. Das Widerstreben, der Unmut und die Duckmäuserei gegenüber den Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die klare Einsicht in asoziale, ausbeuterische, intrigante Zeitläufte, die vollmundig und weitschweifig dargelegt werden, liegen umso verzweifelter fest, da selbst diejenigen, die das zu formulieren wissen, nichts Besseres oder auch nur anderes fordern und sich genauso kleinmütig verhalten, wie das für das Funktionieren unseres Staates so typisch ist.
Jirgels Romanfiguren sind männlich, mittleren Alters und illusionslos. Der Akademiker aus dem Wendland ist derartig selbstgerecht, dass sein Erzählen zuweilen in einen lächerlich hymnischen Ton fällt. Diese Männer haben Angst vor Frauen – mit Recht und sie hassen sie und sich dafür, sie wollen sie haben und das Leben auch und sie verstehen gar nichts und das wissen sie und dafür wollen sie bemitleidet werden und das ist anstrengend, denn sie entschädigen nicht dafür, sie sind weder brillant witzig noch ätzend ironisch, sie sind normal. Man muss also wirkliche Barmherzigkeit für diese rassistischen, frauenfeindlichen und immer neidischen, sich übervorteilt fühlenden deutschen Männer entwickeln. Es sind Jammerlappen und das ist leider gar nicht komisch.
Autoren wie Jirgl haben es schwer. Sie überwinden sich zu größtmöglicher Ehrlichkeit. Sie schreiben über ihre eigenen idiotischen Arbeitsbedingungen, eine Mischkalkulation aus Feuilleton und Stipendium. Sie bemühen sich, so wenig wie möglich zu lügen. Sie denunzieren sich und andere. Sie schreiben z.B. über Deutschland, besonders die Zeit knapp nach der so genannten Wende. Sie schreiben über die kläglichen Fantasien ihrer Geschlechtsgenossen, über das Paarungsverhalten im Allgemeinen und über das in Berlin im Besondern, und man muss konstatieren, es ist alles ganz richtig aufgeschrieben. Aber es ist nicht zu ertragen.
Nora Sdun
Reinhard Jirgl: Abtrünnig, Roman aus der nervösen Zeit, 540 Seiten, Hanser 2005