25. Oktober 2005

Coltranes Crossroads

 

Um den Delta-Blues-Gitarristen Robert Johnson rankt sich die Legende, er habe dem Teufel seine Seele verkauft. Für seine Kunst. At the Crossroads. Für solche Begabung muss man sich wohl über die Schwelle wagen und mit jenseitigen Mächten einlassen.

 

Nicht ganz von dieser Welt ist auch „A love supreme“. Und das ist die Geschichte, die der amerikanische Musikjournalist Ashley Kahn über das 1964 aufgenommene Album des Jazz-Saxophonisten John Coltrane erzählt. Coltrane, Jahrgang 1926, wächst in traditionell religiöser Umgebung auf, verliert seinen Vater früh, spielt sich in Blues- und Tanzkapellen aus der Armut, wird Mitglied im Miles Davis Quintett, einer der einflussreichsten Bands der 50er Jahre, gerät in die Drogensucht und verliert schließlich seinen Job, von Davis unter Handgreiflichkeiten von der Bühne weggefeuert.

 

Doch Coltrane findet die Kraft für einen persönlichen und musikalischen Neuanfang. Eine nahezu klassische Jazzstory. Im Tausch „Jazz gegen Junk“ gibt er Heroin und Alkohol mithilfe seines Glaubens auf und gewinnt, wie er im Begleittext von „A Love Supreme“ („Dear Listener“) darlegt, die Gabe, andere mit seiner Musik glücklich zu machen. „A Love Supreme“ – ein Pakt mit dem Täufer, quasi.

 

Zum zweiten Mal widmet sich Ashley Kahn der Jazzgeschichte als Geschichte eines herausragenden, populären Werks (nach Miles Davis’ „Kind of Blue“). Das wäre eine plausible Perspektive, denn so sehr Jazzgeschichte Personenkult und Selbsterschaffungsmythen liebt, so sehr steht Jazz für kollektives Schaffen, oral tradiertes Material und Live-Performance. Aber ohnehin steht Coltrane bei Kahn immer im Mittelpunkt.

 

 

Jazz plus

 

Als das Album im Frühjahr 1965 erscheint, befindet sich der Jazz wie immer im Wandel und seine technischen Bedingungen expandieren. Viele Musiker, deren Repertoire sich vor kurzem noch auf Lied- und Blues-Harmoniegerüsten bewegte, improvisieren nun über Skalen („modes“), die einen Akkord minutenlang ausmalen, umdeuten und so das tonale Zentrum verschleiern. Schlüsselfiguren der modalen Spielweise sind der Trompeter Miles Davis und der Saxophonist John Coltrane, deren gemeinsamer Weg ebenfalls an musikalische „Crossroads“ geraten ist: Davis wird in den nächsten Jahren die Elektrifizierung des Jazz vorantreiben. Für Coltranes Schaffen ist „A Love Supreme“ ein Höhepunkt der modalen Spielweise und ein letztes Innehalten vor dem so genannten „new thing“, dessen Pionier Ornette Coleman schon 1961 „Free Jazz“ aufgenommen hat und dem Coltrane in kollektive Improvisationen und freie Tonalität folgen wird.

 

Coltranes Ruhm gründet auf der Schönheit seines Tenor- und Sopransaxophon-Tons, den er durch die Intensität und Energie seines Spiels bis in Vierteltöne und artistisch gegriffene Akkorde, schier endlose, Kraft raubende Soli oder über mantrahafte Wiederholungsschleifen wie kein anderer Saxophonist zuvor erforscht hat.

 

Das Album „A Love Supreme“ zeichnet sich aber daneben durch seinen spirituellen Überbau aus. Die vier Titel sind Teile eines Ganzen: Acknowledgement, Resolution, Pursuance, Psalm. Coltrane bekennt seinen Glauben musikalisch und dokumentiert mit der Aufnahme ein religiöses Erweckungserlebnis. Erstmals präsentiert sich ein Jazzalbum mit einem gebetartigen Begleittext, der im vierten Teil der Jazz-Suite Zeile für Zeile als Grundlage der Improvisation dient. Coltranes Saxophon meditiert an dem Text entlang — und dieser vertritt im Klappcover der Vinylscheibe seinen programmatischen Anspruch deutlich sichtbar. So was, lernen wir, hängte man sich in den 60er Jahren in San Francisco an die Wände.

 

Offenbar trat Coltrane in dieser Zeit nicht ohne missionarischen Eifer auf. Aber wenn er am Ende des ersten Teils der Suite tatsächlich zu singen beginnt und dem Hauptmotiv einen Text überlegt — a love supreme —, klingt das wunderbarerweise unschuldig genug, um den Eindruck religiösen Kitsches zu verdrängen. Es ist der persönliche und intime Charakter seiner Spiritualität, die Blöße des Suchenden, die mit seinem Jazz im Einklang steht und einen Nerv der Zeit trifft. Das Programm einer „Love Supreme“ ist zugleich konkret und allgemein genug, um in jenen Jahren Krishna-Jünger, Vietnam-Kriegs-Gegner und Kritiker der Rassentrennung, um religiöse und politische Motive anzusprechen.

 

 

Polyphonie des Personals

 

Ashley Kahn lässt reihenweise prominentes Personal auftreten. Wir folgen den Erinnerungen von Coltranes Frau und Musikerkollegin Alice und seinem Sohn Ravi — beide verwalten heute den künstlerischen Nachlass. Zu Wort kommen die Mitwirkenden der Aufnahmesession Elvin Jones und McCoy Tyner, Tontechniker, Repräsentanten der Plattenkonzerne und einiger Radiostationen. Persönlichkeiten wie Curtis Fuller, Branford Marsalis, John McLaughlin oder Carlos Santana und sogar Bono, Neil Young und Patti Smith lassen keinen Zweifel am weit reichenden Einfluss von „A Love Supreme“. Fast hält man es für möglich, „A Love Supreme“ – eine Jazz-Scheibe! – für eine Art Soundtrack der mittleren 60er Jahre zu halten.

 

Im Verlauf seiner Recherche hat Kahn viele Interviews selbst geführt und dokumentiert das im Anhang des Buches. Immer wieder fließen auch Sequenzen in den Text mit ein aus Musiker-Bio- und -Auto-Biographien, Interviews und Artikeln. Die vielfältigen Details machen die Produktionsbedingungen der 60er Jahre anschaulich, und auch beim Fotomaterial hat der Verlag nicht gespart.

 

Kahn zeigt Coltranes Herkunft und musikalische Entwicklung („Nach Miles auf neuen Wegen“) sowie das „klassische Quartett“, jene Band-Formation, mit der Coltrane schließlich „A Love Supreme“ aufnehmen wird. „A Love Supreme“ manifestiert sich aber als Moment im Aufnahmestudio, und so richtet sich die Aufmerksamkeit besonders auf die Studiositzung. Hier finden sich auch die besten Passagen des Textes. Die Rekonstruktion der Entstehung von „A Love Supreme“ am 9. und 10. Dezember 1964 ist überzeugend. McCoy Tyner, Elvin Jones, der Tontechniker Rudy Van Gelder steuern ihr Wissen bei, und der Leser kommt dem Geheimnis der Suite näher.

 

Vieles bleibt auch unklar oder wird vielleicht ein bisschen verklärt. So schafft allein die Tatsache, dass es einen zweiten Aufnahmetag gab, reichlich Anlass zu Spekulationen. Manchmal meint Kahn es sehr gut und macht die Sache geheimnisvoller, als sie vermutlich gewesen ist. Was geschah am ominösen zweiten Tag der Aufnahmesessions? Warum wird den Musikern auf dem Plattencover Dank ausgesprochen, während sie doch an dem veröffentlichten Material gar nicht beteiligt sind? Wir erfahren, dass „A Love Supreme“ abends aufgenommen wurde, und, als bräuchte es noch Beweise für die spirituelle Ernsthaftigkeit des Unternehmens, dass der Aufnahmeleiter Kerzen aufgestellt hatte. Je näher man vor solche Schlüssellöcher der Musikgeschichte geführt wird, desto weniger traut man seinen Augen.

Daneben gibt es Exkurse und Erläuterungen aller Art, über das Plattenlabel „impulse!“ und Rudy Van Gelder, über Coltranes Texte im Plattencover und mehr – Materialfülle, kenntnisreich und oft detailverliebt. An Quantität mangelt es nicht.

 

Die Übersetzungen des Interviewmaterials bleiben dicht am amerikanischen Tonfall und oft sogar an den Unfertigkeiten der mündlichen Rede – von der Syntax bis zum Räuspern der Gesprächspartner. Ein sinnloses „You know, …“ bleibt als „Weißt du, …“ genauso sinnlos. O-Ton schafft Authentizität und Nähe, was klischeehaft zum Jazz passt. Aber warum sollten die Zeitgenossen John Coltranes nicht in ganzen Sätzen sprechen? Oft bleiben die Stimmen auch zu sehr sich selbst überlassen, Meinungen wechseln ab, und der Leser wünscht sich eine ordnende Hand, die das Geplauder auf Linie bringt, bewertet, strafft, ausblendet.

 

„A Love Supreme“ klingt 2005 unverbraucht. Ashley Kahn hebt den Zeitvorhang ein bisschen an und zeigt, warum das so sein kann, wie diese Musik funktioniert und unter welchen Bedingungen sie entstand. Die Energie, die am Aufnahmetag zwischen den Musikern vibrierte, erreicht uns mühelos, in seinem Buch wie von der CD oder durch das Knistern alten Vinyls. Es handelt sich im besten Fall um musikalische Energie.

 

Ralf Schulte (10.05)

 

Ashley Kahn: A Love Supreme. John Coltranes legendäres Album. Berlin, Rogner & Bernhard 2004; Zweitausendeins, 22 Euro amazon

 

John Coltrane: A Love Supreme. The Verve Music Group 2003 amazon