Leben in Venedig
Manche Leute planen ihren Ausstieg, und sei es nur ein Urlaub. Manche müssen neu anfangen, weil sie sonst ihr Leben lassen würden. Die meisten freilich machen einfach weiter, alle mit ihrem Quantum Urlaub. Die Abweichung wird dann im Kino umso sympathischer vorgeführt werden können. Und alle können mitseufzen, -leiden und -lachen. Die Heldin dieses Films, unterwegs mit ihrer Familie – Gatte und zwei Söhne – in einem Reisebus, wird an einer Raststube einfach vergessen. Natürlich ist die Begründung des werten Gatten ein bisschen dümmlich, denn er fragt sie später am Telefon, was sie denn so lange gemacht habe und doch durchscheinen lässt, dass sie sie einfach vergessen haben, ob mit oder ohne langem Aufenthalt wo auch immer.
Die Heldin, eine brave Hausfrau und völlig unselbstständig, entscheidet, nicht auf den wieder umkehrenden Bus zu warten, sondern wieder nach Hause zu fahren, um mal alleine sein zu können. Natürlich wird alles kinoanders, ein Typ, der sie mit dem Auto mitnimmt, fährt sie nach Venedig („wie, Sie waren noch nie in Venedig?“), von wo sie am kommenden Tag nach Hause aufzubrechen gedenkt. Aber natürlich kommt es wieder anders, sie verpasst den Zug, schöne Gelegenheit, noch einmal diesen irgendwie sonderbaren Kellner aufzusuchen und zu fragen, wo man denn für fast kein Geld unterkommen könne. Der nimmt sie natürlich mit zu sich nach Hause, wo er doch ganz andere Pläne hatte, man sieht nämlich den Strick baumeln, an dem er sich etwas später versuchen wird aufzuhängen, was aber selbstverständlich scheitern wird aufgrund der immer sympathischer werdenden Touristin. Mittlerweile hat der Gatte einen skurrilen Detektiv, der eigentlich Klempner ist, auf Venedig und speziell seine Frau angesetzt. Der Fettsack sorgt klarerweise für nicht wenig Heiterkeit ob seiner Tollpatschigkeit und Naivität.
Der Heldin gefällt Venedig immer besser, sie kriegt sogar einen Job bei einem Floristen, dann lernt sie noch eine Nachbarin kennen, eine Masseuse, die am Ende sich in eben den Detektiv massierend verlieben wird, der eigentlich an keiner Stelle wirklich ahnen lässt, was er damit anfangen würde, wenn er die Heldin fände. Der Fettsack ist also gewissermaßen der etwas übergewichtige Sportspoiler des Films, der große Augen und Ohren hat für die netten kleinen sympathischen Abweichungen. Aber für den Gatten kommt es am Ende doch hart, denn Bruno, als er sie schon verloren glaubt und gelangweilt am Küchentisch die Tulpenblätter abfallen sieht, macht einen letzten Versuch und schreibt ihr und fährt zu ihr und wirbt um sie. Mit Erfolg. Sie lässt Mann und Mäuse zurück und fährt wieder nach Venedig. Man weiß schon, dass sie eine ausgezeichnete Akkordeonspielerin ist, Bruno ein ehemaliger Sänger, na bitte, die vergessenen künstlerischen Potenziale in uns allen, das ist wie mit dem Zauberwort, auf das wir in schwachen Stunden so sehr hoffen, um es am Stammtisch oder wo auch immer umso vernichtender ins Reich des Kinoschattens verbannen zu können. Bruno Ganz ist alt geworden, genauso wie Michel Piccoli, aber gut sind sie immer noch.
Dieter Wenk (03.01)
Silvo Soldini, Brot und Tulpen (pane e tulpani), Italien 2000