Die Wirklichkeit einer Insel
Man hat ja schon Schwierigkeiten dabei, sich seine Eltern kopulierend vorzustellen – es sei denn, man hat seine Urszene als nicht gar so schockierend empfunden, ja hat sie vielleicht als etwas für den eigenen zukünftigen Empfindungshaushalt Herausragendes interpretiert, so mit seinen Ärmchen auf die oberste Sprosse des Stützwägelchens geklammert und nicht mehr die Augen schließen könnend, bis die lieben Eltern ein anderes Lied folgen ließen, ein Wiegenlied, das die erste Kinoerfahrung jäh beendete – also angenommen, dem war nicht so und das Thema Eltern und Sex war immer schon ein ungehöriges, sehr apartes, wie soll man sich dann erst seine eigenen Großeltern vorstellen, bei denen man immerhin den Vorteil der Wahl des Paares hätte, was aber natürlich nicht ernsthaft ins Feld der Phantasie eingeführt werden kann, da das völlig absurd ist.
Und doch: Jeder hat noch „Harold und Maude“ im Kopf, und welcher junge Mann erinnert sich nicht gerne an irgendeine ältere Frau, mit der er nicht nur gerne eine Tasse Tee getrunken hätte. Also ganz neu ist das Thema nicht, aber der Umgang ist offener und direkter geworden, man fängt an, davon zu reden, man macht vielleicht erst heimlich Fotos, dann schickt man sie an Agenturen, und dann gibt es die ersten Bilder diesseits der Perversionsgrenze. Zum Beispiel von Andres Serrano, diese Alte, über achtzig, mit der rechten Hand auf einen Krückstock gestützt, der linke Arm angewinkelt, in der Hand, die eine Bewegung zum Mund ausführt, eine Zigarette haltend, und diese Frau ist ganz nackert, und sie schaut sehr konzentriert, mit dem Profil zum Betrachter, etwas an, was man nicht sieht, was aber etwa ein Bild an einer Wand sein könnte. Und wir schauen eben diese Frau an, dieses letzte Kapitel des ‚Projekts Körper’, und ich sage, es ist immer noch schön. Das heißt natürlich nicht, dass ich mir meine Großmutter in eben der Position vorstellen könnte, die hat nämlich nie geraucht.
Die älteren Herrschaften in Kolleks Film, zu denen auch Damen gehören, sind dagegen beinahe noch Jungspunde mit ihren 65 Jahren. Das sieht in den Anfängen, die merkwürdigerweise wieder total an pubertäres Getue erinnern, ganz rührend aus, aber zum Beispiel gibt es keinen Zungenkuss unter Senioren, man drückt keimfrei die Münder aufeinander wie in den guten Hollywood-Jahren und bekennt dann freimütig, in den letzten Jahren noch nie so leidenschaftlich geküsst worden zu sein. Dann gibt es natürlich eine Bettszene, aber mit Bettdecke, und die Szene dauert fünf Sekunden – und zwar so, als ob es jetzt höchste Eisenbahn wäre, das Licht auszudrehen, weil jetzt die leider doch sehr peinlichen Seiten der zwar leidenschaftlich empfundenen, aber doch auch ein wenig ekligen Situation gezeigt werden müssten, diese Dreifaltigkeit, diese Kinn-Einfallslosigkeit, diese Grau-Elfigkeit, und so drehen wir ab, auf dass wir schnell an große Sträuße mit Blumen denken, an diese ganze Vorgängigkeit der Angelegenheit, ob jung, ob alt, an dieses ganze Spiel, von dem jeder denken kann, was er will, und wir sind dem Regisseur dankbar, dass er diese fast noch junge Frau am Anfang nicht gleich hat über den Haufen fahren lassen, denn so ist das Luftschloss als Lustschloss gerettet, natürlich mal wieder nur als Kinophantasie, womit wir wieder ganz am Anfang wären, bei den Legosteinen des Wünschens.
Dieter Wenk (03.01)
Amos Kollek, Fast Food, Fast Women, USA 2000; Anna Thompson u.a.