16. Oktober 2005

Synthese als Surprise-Party

 

Wer reden und schreiben würde mit Rücksicht darauf, dass die eigene Sprache nur eine unter Tausenden anderen sei mit ihren je eigenen Ausrichtungen auf die Wirklichkeit, der hätte schon, so Édouard Glissant in seinen „Ansätzen zu einer Poetik der Vielheit“ (so der Untertitel von „Kultur und Identität“), einen erheblichen Beitrag geleistet zu einer unbedingt zu fördernden Kultur der „Globalität“. Unter dieser versteht der in Martinique geborene, dort, in Paris und New York lebende Autor die positive Seite der vor allem hegemonial wirkenden Globalisierung. Während Globalisierung das eigene versuche zu retten (und zu erweitern), indem es das andere vernichte, sei Globalität charakterisiert durch die Bereitschaft, im Prozess eines gegenseitigen „give and take“ ein Drittes entstehen zu lassen, dessen Entwicklung durch die Ausgangszustände nicht determiniert sei. Diesen Überschuss, diesen nicht kontrollierbaren Auswuchs nennt Glissant „Kreolisierung“; während „Mischungen“ vorhersehbare Ergebnisse sind, birgt die Kreolisierung ein chaotisches Moment, das sie auszeichnet.

 

An dieser Stelle kommt dem Autor seine politische Korrektheit ein bisschen in die Quere. Anders gesagt: bottom-up-Beobachtungen und top-down-Direktiven müssen sich nicht notwendigerweise überlappen. Während nämlich das chaotische Moment sich sehr leicht ausmachen lässt zum Beispiel bei der Durchdringung von Sprachen („Charakteristisch für das Kreolische ist, dass es eine Sprache des Kompromisses zwischen den schwarzen Sklaven und den  weißen Kolonialherren und deren Nachkommen ist, und die Muttersprache der beiden Gruppen bildet.“), so weiß man erst mal nicht so recht, wie dieser Prozess zugleich in sich selbst das demokratische Prinzip einer absolut gleichwertigen Partnerschaft vermitteln können soll.

 

Genau das aber schwebt Glissant als utopisches Prinzip vor. Insofern ist er Maximalist und versucht, alles aus den Möglichkeiten der Gegenwart herauszuholen: Sowohl den immensen Reichtum der zahllosen Sprachen und Kulturen bewahren (bei dem der Autor auch eher das positive als das negative herausstellt), als auch auf die Surplus-Effekte vertrauen, die ihre hegelianische Textur auch gar nicht verbergen wollen. Die „All-Welt“ als chaotisches Dauerprozessieren analog der Entwicklung kreolischer Sprachen mit eingebautem Demokratisierungsregulator, im Gegensatz zu einer reduzierenden „Welt-Ganzheit“ mit ihrer Wurzel in schlechter Abendlandschaft. „The West“ ist hier leider nicht „the best“. Er missverstehe sich als universaler Kulturträger, während er selbst vergisst, dass auch seine Wurzel sich einer Setzung verdankt, deren Heterogenität er meist nicht mit reflektiert. Und so kann sich der Westen in der Kreolisierung nicht wiedererkennen.

 

Dass der „westliche“ Leser sich auf der einen Seite nur zu gut in dieser Poetik wiedererkennt (einmal mehr steht die Rhizomatik von Deleuze/Guattari Modell), auf der anderen Seite aber massive Vorbehalte bleiben (das mitgelieferte Basisdemokratische), hat vielleicht damit zu tun, dass der Autor ein wenig als Magier auftritt, der es noch einmal mit der Geschichtsphilosophie probiert und diese zugleich als Selbst-Poetisierung der Welt verhandeln möchte. Das klingt zwar auch ganz sympathisch, nicht ganz vergessen sollte man jedoch auch, dass „Vielheit“ ein Fass ist, dem man hin und wieder ganz gerne den Boden ausschlagen würde.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

Édouard Glissant, Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill, Heidelberg 2005 (Wunderhorn); Introduction à une poétique du divers, Paris 1996 (Gallimard) – die hier abgedruckten Gespräche hat Wunderhorn nicht in die deutsche Ausgabe übernommen

 

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