10. Oktober 2005

„Art à deux“ und mehr

 

Da die ehemals so genannten „Schönen Künste“ nicht mehr schön sind und auch nicht mehr zu sein brauchen, greift ein außerästhetisches Regulativ und bestimmt, was als Kunst gelten kann und was (eher) nicht: der Markt. Mit seinen Einschließungsmechanismen schließt er gleichzeitig aus (Messen haben ihre Gegenmessen, alles andere fällt sowieso raus). Dabei kommt es – zunehmend ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zu interessanten gegenläufigen Effekten: Was auf gesellschaftlicher Ebene ausgeschlossen ist (zum Beispiel Patienten mit „Ein-Personen-Welt“-Konstruktionen in Anstalten), ist auf ästhetischem Feld durchaus anerkannt (als schizophrener Künstler etc.).

 

Wenn schon das „Romantische“ vom klassischen Standpunkt aus als „krank“ bezeichnet wurde, konnte man im 18. und 19. Jahrhundert nicht erwarten, Produktionen von Kranken, die es wirklich waren (einmal vorausgesetzt, dass Krankheit nicht nur ein Diskurseffekt ist), mit Winckelmann’schen Etiketten zu versehen. Erst der Durchgang durch die Moderne machte den Blick frei für das andere jeder Art, der Blick schweifte zurück in die Urzeit, auf andere Kontinente und in andere Hirne. Spätestens Prinzhorns umfangreiche Dokumentation „Die Bildnerei der Geisteskranken“ von 1922 ermöglichte zumindest in Kunstkreisen die Klassifizierungen als „interessant“ und „faszinierend“.

 

Den Leser von H. Krafts „Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie – nunmehr in der 3. überarbeiteten und erweiterten Auflage im Deutschen Ärzte-Verlag und nicht mehr bei Dumont erschienen – erwartet aber nicht nur ein historischer Abriss einer zunehmenden Beachtung von Erzeugnissen psychiatrisch Erkrankter im Kontext Kunst; der Autor vergisst nicht, auf die nach wie vor bestehende Grenze zwischen Künstlern, die eben in erster Linie Kunst machen, und denjenigen, die erst nachträglich in das System Kunst integriert werden, aufmerksam zu machen. Außerdem wird der Versuch gemacht, grobe Raster wie „Geisteskrankheit“, Verrücktheit etc. zu differenzieren und entsprechende Krankheitsbilder mit bestimmten oder zu erwartenden kreativen Potenzialen zu korrelieren, die von sich aus ja nicht schon „Kunst“ sein müssen.

 

Den Autor interessieren weniger die speziellen Mechanismen, aufgrund derer ein Patient mit seiner Produktion in die Öffentlichkeit promoviert wird, auch wenn ihm das Problem, wo und wie „Kunst“ entsteht, völlig bewusst ist. Kraft, selber Nervenarzt und Psychoanalytiker, geht es vor allem um die identitätsbildenden, -stabilisierenden oder persönlichkeitstransformierenden Chancen von Menschen, die im Zeichnen, Malen, Basteln, also im Umsetzen von sie selbst umtreibenden Energien, die oftmals auch lähmend oder überwältigend sein können, sich in eine mehr oder weniger stabile Position prozessieren, die ihnen Anerkennung durch andere und somit Bestätigung ihrer selbst verschaffen. Und seitdem der Begriff des Künstlers sowieso nicht mehr mit klassischen, klassizistischen, faschistischen, realsozialistischen Kategorien konstruiert wird, ist die Bühne frei für den gefährdeten Künstler, dessen Job es, überspitzt gesagt, ist, sich in ständigen Transformationen seiner selbst zu üben. In der Kategorie des Neuen konvergieren „Künstler“ diesseits und jenseits der Grenze.

 

Neu in der dritten, reich bebilderten und auch thematisch reich facettierten Ausgabe ist ein Kapitel über „Transformative Krisen“ (Kubin und Beuys), über eine „Künstlerische Selbstreflexion einer schizophrenen Psychose“ (Blalla W. Hallmann) sowie ein Abschnitt zu „Kunst und Tabu“ (Theo und die Bildnisse von Adolf Hitler).

Die Irren mögen wirklich irre sein, aber was wären (heute) die Künstler ohne die „Irren“.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

H. Kraft, Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 2005 (Deutscher Ärzte-Verlag)

 

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