9. Oktober 2005

Zum Überwinden der Schranke

 

Im ,Wahrig’ wird „Protokoll“ unter Punkt 1 beschrieben als „gleichzeitig erfolgende od. erfolgte (wortgetreue) Niederschrift einer Verhandlung od. eines Verhörs“. Es gehören also mindestens zwei Personen zu dieser Prozedur. Keine Frage: Der Aufwachende ist nicht mehr der Träumende. Vielleicht ist er gerade lachend aus dem Traum gefallen oder sitzt schweißgebadet auf der Bettkante oder zitiert immer wieder eine Traumsequenz als Urteil gegen sich selbst. Wenn Adorno behauptet, sofort nach Aufwachen sich an die Niederschrift des Trauminhalts gemacht zu haben, so darf man das getrost glauben, anders ist das ja sowieso nicht möglich, jede Sekunde ist kostbar, jede Ablenkung verschließt entscheidende Synapsen oder was auch immer, und der (zweifelhafte) Schatz lässt sich nicht mehr heben. Bleibt der Einwand der fehlenden Gleichzeitigkeit. Aber auch hier: Das Protokoll wird die Instanz (gewesen) sein, der Referenzpunkt der Beglaubigung, wenn die Niederschrift anfängt zu zirkulieren, was ein immanenter Traum bekanntlich nicht kann. Die zweite Formgebung ist dann das Original, dessen „Urschrift“ sofort in Vergessenheit gerät, um womöglich anlässlich eines weiteren Traums aktualisiert, modifiziert, verfremdet zu werden.

 

Der Leser dieser aus dem Nachlass publizierten – von Adorno allerdings zur Veröffentlichung vorgesehenen – Traumprotokolle hat also nur diese zwischen zwei Zeilen und zweieinhalb Seiten langen Texte und mag sich nun fragen, was er denn mit ihnen, abgesehen von ihrem unbestreitbaren Unterhaltungswert, anfangen soll. Auf den 80 Seiten befinden sich Protokolle aus den Jahren 1934-1969, ein Gutteil davon aus dem amerikanischen Exil (Los Angeles). Man lernt ein wenig die amerikanische Nacht des Exils unter technisch nicht manipulierten Bedingungen kennen, ohne sie doch eins zu eins mit der Wirklichkeit verrechnen zu dürfen. An manchen Stellen scheint sich Adorno lustig zu machen über die natürlich zu vergegenwärtigende Bereitschaft, diese Protokolle mit Psychoanalyse zu überziehen (Protokoll vom 25. Juni 1957).

 

Den heutigen Leser mag die relative Häufigkeit von Bordellträumen überraschen, zugleich können diese als Einwand gegen Freuds These verwendet werden, wonach der Traum eine Wunscherfüllung sei. Denn eine wahre Freude kann das nicht gewesen sein, wenn man immer die werte Gattin und die eigene Mutter in besagte Lokalitäten mitschleppt. Natürlich spielen auch in diesen Protokollen Tod und Gewalt eine große Rolle. Allerdings spielten die ihnen zugrunde liegenden Träume offensichtlich mehr in parabolischen als politisch eindeutig zu definierenden Settings. Was es aber auch immer mit der Deutung der Protokolle auf sich haben mag: Jeder Leser wird sich an eigene Traumproduktionen erinnert fühlen: die Bekanntschaft mit Leuten, die man gar nicht kennt, „Anschlussfehler“ aufgrund von Personentausch oder plötzlichem Ortswechsel, das ermüdende Kreisen auf einer Stelle, wo das Objekt der Begierde doch so nah ist, der Wegfall des „Protokolls“ und die damit einhergehende totale Verunsicherung in „Gesellschaft“, eben die ganze seltsame Traumlogik, die zustande bringt, worauf man im normalen Leben, und sei es als Tagtraum, niemals gekommen wäre. Das macht auch diese „Traumprotokolle“ von Theodor W. Adorno so lesenswert.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Theodor W. Adorno, Traumprotokolle, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Nachwort von Jan Philipp Reemtsma, Frankfurt 2005 (Suhrkamp)

 

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