1. Oktober 2005

Gruß von der Zeitmaschine

 

Als am 9. September 1998 der französische Schriftsteller und Publizist Philippe Sollers mit dem frisch gekrönten Skandalautor Michel Houellebecq zu Mittag isst, dessen „Elementarteilchen“ nicht nur „Le monde“ vor Wut kochen lässt („der Schmutz in der Literatur“ etc.), zeigt Houellebecq dem älteren Kollegen ein paar Stellen aus dem Roman (vermutlich die, in denen Sollers, in liebevoller Karikatur, selbst auftritt) und ein Foto eines 13-jährigen Mädchens, das Houellebecq verführerisch (éblouissante) zu finden scheint. Der Tagebuch-Kommentar von Sollers: „Die ,Schönheit’ der Jugend scheint ihn zu faszinieren und niederzuschlagen. Er wundert sich, dass es mir nicht ebenso geht.“

 

Die Ambivalenz, die in dieser kleinen referierten Bemerkung Houellebecqs steckt – Verführung und Abstoßung, Himmel und Hölle –, wird in seinem jüngsten Roman, „Die Möglichkeit einer Insel“, konsequent entfaltet. Es geht hier alles ganz einfach zu, was die Dinge aber nicht notwendigerweise weniger kompliziert sein lässt: Das Apriori, das dieses Buch durchzieht (für viele ein Schmerzapriori), heißt: Glück gibt es nur in der Jugend, ein bisschen noch mit ihr, ohne sie überhaupt nicht. Jugend ist eine im Kantischen Sinn transzendentale Kategorie, die ihr Unwesen treibt im schopenhauerisch getönten Menschenpark. Jugend, und nur Jugend, so der Erzähler Daniel1 in seinen zahlreichen tristen Reflexionen, ermöglicht es, Sex zu haben, alles drehe sich nur um Sex, und wer am Anfang des 21. Jahrhunderts noch so dreist sein will, Liebe einzuklagen, gerade als jemand, der nicht mehr ganz jung ist, weiß nicht, was der unerbittliche und unumkehrbare Zeitpfeil nicht schon alles abgeschossen hat.

 

Mensch-Sein in diesem Sinn ist in etwa begrenzt auf das Alter von 18 bis 28 Jahren (eine Frau von 30 galt schon im ancien régime als alt), danach beginnt der unaufhaltsame Schrecken, der einen schließlich auf den peripheren Kreisen des Sexabfalls zirkulieren lässt. Daniel1 hat Glück im Unglück. Er geht hart auf die 50 zu, ist aber ein reicher Mann, der auch nicht ganz dumm ist (er ist Entertainer, eine Art Clown), und so gelingt es ihm irgendwie, an die schöne, eine Generation jüngere Esther heranzukommen, mit der er eine wunderbare Zeit verbringt. Natürlich kann er sie nicht halten, Daniel1 ist am Ende. Was bleibt ihm? Selbstmord, oder die Hoffnung auf Wiedergeburt, ein Thema, das Houellebecq spätestens seit seinem gleichnamigen Gedichtband umtreibt. In „Die Möglichkeit einer Insel“ sind es die „Elohimiten“ – eine an die realen „Realianer“ angelegte Sekte –, die hart daran arbeiten, Duplikate menschlicher Wesen zu erstellen. Die Kopien, so das Programm, sollen gleichsam wie Athene aus der Wade des Zeus entspringen und der ganze Geburts- und Erziehungskrampf endgültig der Vergangenheit angehören. Und ewig würde dann Daniel1 grüßen.

 

Der Witz an dem Buch ist, dass das tatsächlich passiert. Es gibt nämlich noch eine Zeitebene in dem Roman, die Zeit von Daniel24 und Daniel25 im Jahr von 4000 etwa, und die beiden Daniels treten ebenfalls als Erzähler auf, genauer gesagt als Kommentatoren des Lebensberichts des „letzten Menschen“ Daniel1, denn dessen Anschlusskopien sind bereits Wesen, die man die Neo-Menschen nennt und mit zunehmender – zeitlicher wie genetischer – Entfernung immer weniger mit Menschen wie du und ich zu tun haben. Die Neo-Menschen leben völlig abgeschottet, ganz für sich allein, es gibt eine Stadt namens Central City, aber deren „Regierung“ macht nichts anderes, als das Funktionieren der technischen Apparate zu gewährleisten. Der Mensch ist endgültig zum Single mutiert, aber er leidet nicht mehr an seiner Vereinzelung, deshalb verstehen Daniel24 und Daniel25, von denen man logischerweise nichts romanhaftes mehr erfahren kann – sie vegetieren becketthaft in ihren Lofts – auch überhaupt nicht, was Daniel1 mit „Liebe“ meinte oder überhaupt mit so etwas wie körperlicher Vereinigung, also Sex.

 

Nicht nur der menschliche Traum, auch der elohimitische Traum gestaltet sich also etwas anders, als ursprünglich gedacht. Die sensualistischen Elohimiten sehen am Ende ein bisschen aus wie die Eloy aus H.G. Wells’ „Zeitmaschine“, angstfrei, aber auch ohne Begehren, also völlig ohne „Objekt klein a“, dessen Funktion ja darin besteht, das Leben immer ein wenig aus der Bahn werfen zu können. Aus den zehn Jahren reinem Spaß ist es also nichts geworden. Das einzige, was von dem ideologischen Versprecher ,proletarisch – animalisch – gut’ übrig geblieben ist, ist eine Herr-Hund-Relation (in potenziell n-facher Ausführung), die hier als eigentlicher Kern des Liebesfantasmas propagiert wird. Nach so viel menschlicher Enttäuschung hätte man sich das ja denken können. Die Welt – auf den Hund gekommen.

 

„Die Möglichkeit einer Insel“ ist die Langversion dieses ins Negative gewendeten Kalauers. Schopenhauer, wäre er Romancier gewesen, hätte einen ähnlichen Roman schreiben können, der Hund und die Wiedergeburt hatte auch er schon im Programm. Nur war der Erlöser nicht die Jugend, sondern noch die Kunst, für die die Neo-Menschen überhaupt nichts mehr übrig haben, komplett veraltet als Thema, Schrott, humanistisches Gelabere und Geschiebe. Das Beste an diesem Buch ist der weit entfernte Blick auf heute. Man liest mit der Seziernadel, das Objekt ist man selbst, und wer hier nicht zum Masochisten wird, dem ist nicht zu helfen.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Michel Houellebecq, Die Möglichkeit einer Insel. Roman, aus dem Französischen von Uli Wittmann, Köln 2005 (DuMont Literatur und Kunst Verlag); La possibilité d’une île, Paris 2005 (Fayard)

 

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