22. September 2005

Prise Tiefsinn, Messerspitze Schwachsinn

 

Der Verstand formt die Gesetze, sagt Alexander von Humboldt. Er ist stolz auf seine lebenslange Contenance, egal wo er arbeitet – und sei es der schlammigste Vulkankrater der Welt. Carl Friedrich Gauß, der eigentlich nie reist, kann dazu nur den Kopf schütteln: „Der alte kantische Unsinn – der Verstand formt gar nichts.“

 

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ins Weltgedächtnis einzugehen. Daniel Kehlmann hat zwei Versionen vom Ende des 18. Jahrhunderts zu einem sehr schönen Roman zusammengefasst. „Die Vermessung der Welt“ ist ein historischer Roman. Es ist kein Tatsachenroman. Leser, die historische Romane schätzen, weil sie korrekte Schilderungen der Geschichte liefern, kommen hier nicht auf ihre Kosten, denn historisch korrekt ist der Text nicht, aber wunderbar. Mit so erfinderischen Biografen wie Daniel Kehlmann werden Gauß und Humboldt noch mal 200 Jahre im Gedächtnis bleiben.

 

Da sind also die zwei Humboldt-Brüder, die ein „Leben in Verdoppelung“ führen. Früh gefördert, klug gemacht und in unersättlicher Konkurrenz zueinander aufgestellt, der eine als Geisteswissenschaftler, der andere, um den es in diesem Buch mehr geht, als Naturwissenschaftler abgerichtet. Die Wassertemperatur jeder Pfütze jedes Landes wird genommen, notiert, und die Daten werden dann gebündelt zum Bruder gesandt, auf verschiedenen Schiffen, damit bei einer Havarie wenigsten ein Teil sicher ankommt, beim Bruder, der zu Hause bleibt und Universitäten gründet, auf dass es Institutionen gibt, die mit dem in der Welt erforschten dann umgehen können.

 

Und Gauß, der Mann aus proletarischen Verhältnissen, dessen arme Eltern mühsam davon überzeugt werden müssen, das überintelligente Kind auf ein Gymnasium zu schicken. Der Mann mit der Normalverteilung, der Typ vom 50-DM-Schein, den das ständige Disponieren und Organisieren ankotzt. Der die unglaublich langen Pausen nicht begreifen kann. Die Pausen, die entstehen zwischen simpler Frage und einfacher Antwort. Der mit Anfang 20 sein Lebenswerk, die „Disquisitiones Arithmeticae“, abgeschlossen hat und nur aus Fingerübung und Geldnot auch noch Landvermesser, Astronom und am Ende Physiker wird.

 

Alexander von Humboldt hetzt von einem Berggipfel zum nächsten und lernt spät den jüngeren Gauß kennen. Dieser ist sein misantropher Gegenpart, der aber trotz schlecht gelaunter Dauermuffeligkeit ein großer Frauen-Liebhaber und Bordellgänger ist, übrigens ganz im Gegensatz zu Alexander, dessen Leib, jedenfalls in diesem Buch, nur als Experimentierfeld für den Nachweis Galvanischer Kräfte herhalten muss.

 

Humboldt und Gauß sind Vermesser der Erde. Gauß beklagt, dass er, 100 Jahre später geboren, viel bessere Arbeitsbedingungen haben würde. Nun, genau diese Voraussetzungen der sich entfaltenden Wissenschaft muss er selbst begründen. „In eine Zeit geboren, verschafft es einem einen Vorteil gegenüber der Vergangenheit und macht einen zum Clown der Zukunft“, mault er. Nur seine Frau ist trocken genug, ihm zu entgegnen: „ Die Anbiederung an die Zukunft ist eine Form der Feigheit.“ Gauß bleibt also, wo er ist, in seinem Jahrhundert in Göttingen. Von Kriegen, Napoleon und Revolutionen kriegt er so gut wie nichts mit, es ist ihm völlig gleichgültig. Er muss nichts erleben, er kann es errechnen. Anders Alexander von Humboldt, er muss ständig erleben, erforschen, seine eigene Position aufs Neue bestimmen, da er sie ständig verändert. Getreu der von den Privatlehrern ausgelosten Devise aus Kindertagen: „Wann immer die Dinge erschrecken, ist es eine Gute Idee, sie zu messen.“

 

Die Kombination beider Männer, die wesentlich an der quantifizierenden Erfassung der Welt mitwirkten, führt den parteiischen Leser an der Nase herum, da man sich nicht entscheiden kann, welchen von beiden Forschern man eigentlich toller finden soll. So beschäftigt man sich also mit dem Vergleichen und sucht nach einer Formel für die Bewertung der Person Humboldt, der so etwas wie eine Allzweckwaffe im Kampf gegen die Blödheit war, und Gauß, der so weit weg war von dem Menschendurchschnitt, dass er mit Blödheit gar nichts anfangen konnte.

 

Daniel Kehlmann schreibt zwei pointierte Porträts, schnell, lustig, besonders die Unterhaltungen in Notlagen (anschwellende Flüsse, Krokodile oder begriffsstutzige Menschen) sind in einem trockenen Ton abgefasst, wie man ihn sonst aus Western-Filmen zu kennen meint: Prise Tiefsinn, Messerspitze Schwachsinn – sonst nichts. Sehr gut.

 

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Roman, 302 Seiten, Rowohlt 2005

 

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