22. September 2005

Welt im Vollzug

 

Ob es sich um Mundöffnungsverfahren, Vorworte, Duelle, künstlerische Veranstaltungen oder solche des politischen Vor-Wahl-Hypes handelt, die phänomenale Unterschiedlichkeit der leicht erweiterbaren Beispiele täuscht nicht darüber hinweg, dass es sich bei ihnen um Rituale handelt, seien sie nun ausgestorben oder noch relativ jung. Rituale sind Formspender und verknappen die Welt. Sie stiften Ordnung auch und gerade da, wo es – zumindest als Begleiterscheinung wie im Duell – um Vernichtung geht. Rituale teilen mit der Kommunikationsform der Konversation ein entscheidendes Gesetz, nämlich das der Unterbrechung, wenn auch im umgekehrten Sinn: Während Rituale in den Alltag einschneiden und das in ihnen Geschehende als bedeutsam herausheben, geht es konversationell darum, eine zumutbare Kette an Themen und Weisen, darüber zu sprechen, zu etablieren und rechtzeitig die Kurve zu bekommen, also zu unterbrechen, bevor es zu gefährlich, weil zu intim etc., wird.

 

Die in diesem Band versammelten Studien gehen auf die während der Tagung „Text und Ritual“ im Februar 2004 vorgetragenen Beiträge im „Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg“ zurück, auf dem sich Literaturwissenschaftler und Ägyptologen austauschten. Den Leser erwarten hoch gelehrte, sehr gediegene und, was das ägyptologische Feld betrifft, für den Laien vermutlich nur schwer nachvollziehbare Untersuchungen, die aber immerhin das als Lerneffekt abzuwerfen vermögen, dass sich auf geisteswissenschaftlichem Terrain nicht alles durch bloße Assoziatitis erschleichen lässt und ein entsprechendes Studium wenn nicht selbst als Ritual so doch als unablässige Initiation zu begreifen ist. Der zugänglichste Text ist sicherlich der von Anja Tippner zu Puschkins Duellszenarien unter dem Titel „Gestörte Rituale“. Sowohl anhand von Textbeispielen als auch am lebendigen Verhalten des russischen Autors, der für seine Duellsucht berühmt war und ist, vermag die Autorin zu zeigen, wie es Duellanten gelang, aus dem Unterlaufen des scheinbar sakrosankten ungeschriebenen Gesetzes, wie Duelle abzulaufen haben, Distinktionsgewinne zu ziehen.

 

Burckhard Dücker behandelt einen Spezialfall aus dem die Moderne insgesamt charakterisierenden Mechanismus: „The tradition of the new“, also dem paradoxen Befund, dass selbst die Kategorie des Neuen von rituellen Effekten begleitet wird. Unter dem Titel „Das Neue als Dimension ritualisierten Handelns“ wirft der Autor einen Blick auf die Gründungsphase von „Dada“ in Zürich im Jahr 1916 und kommt zu dem Ergebnis, dass selbst avantgardistische Strömungen wie Dada dem konsistenzverschaffenden Mittel aus Struktur und Ereignis nicht entkommen können. Allein aus Konkurrenzgründen mit rivalisierenden „Ismen“ galt es, dem Neuen ein Minimum an Wiedererkennbarkeit einzuarbeiten, auch und gerade wenn die endlose Definitionslust einen semantisch wiedererkennbaren Kern ausschloss. Um dekonstruktivistisch orientierte Überlegungen zum Verhältnis von Text und Paratext (zum Beispiel als Vorwort) geht es in Uwe Wirths Beitrag „Die Performativität des Paratextes“, in dem vor allem die sprechakttheoretische Dimension des Rituellen als Vollzug rekonstruiert wird.

 

Rituale, so viel kann man festhalten, sind überpersönliche Inszenierungen. Und doch ist der Einzelne mehr als nur ein Erfüllungsgehilfe, das zeigen gerade Duelle, ob mit Pistolen oder als Wahlveranstaltung.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Text und Ritual. Kulturwissenschaftliche Essays und Analysen von Sesostris bis Dada, hg. von Burckhard Dücker und Hubert Roeder, Heidelberg 2005 (Synchron – Wissenschaftsverlag der Autoren)

 

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