Im Namen des Heilers
Eine Erzählung von Mathias Aumüller
Sie werden wohl kaum weiterlesen, wenn Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich früher Philosophie studiert habe; aber sie werden auf jeden Fall weiterlesen, wenn Sie erfahren, daß ich im letzten Jahr mit fast fünfzig Frauen geschlafen habe. – Tja, wenn Sie aufmerksam gelesen haben, so werden Sie begreifen, daß ich mich mit dem ersten Satz weder zu dem einen noch zu dem anderen bekannt habe. Aber aus meiner Neigung zum Überdifferenzieren, wie sie aus dem zweiten Satz hervorgeht, läßt sich immrhin ersehen, daß zumindest ersteres nicht ganz unwahrscheinlich ist.
Ich hatte gerade meine Doktorprüfung bestanden, im Südwesten. Nein, leider nicht Denver, Colorado, sondern Stuttgart, Württemberg. Der Titel der Arbeit lautete „Agathonistische Heterodoxien und metaepistemische Sublingualtransformationen im aristotelischen Eudämonismus“. Es mag auf den ersten Blick nicht ganz einsichtig erscheinen, doch gibt dieser Titel ganz gut wieder, worum es in der Arbeit geht. Wie auch immer, in Stuttgart im Fach Philosophie zu promovieren kommt fast einer Scharlatanerie gleich, denn es ist kaum bekannt, daß diese Stadt eine Universität hat, geschweige denn ein Institut für Philosophie. Architektur? Ja. Elektrotechnik? Aber sicher. Philosophie? Was ist das denn? Es ist leichter, auf der Königstraße ein Fachwerkhaus zu finden als in Stuttgart einen Philosophen. Genug, es hatte sich nun einmal so ergeben,und jetzt mußte ich nach zweieinhalb stipendienfinanzierten Jahren eine Arbeit finden.
Also begab ich mich nach Schwäbisch Gmünd. Nein, ich rechnete nicht damit, in Schwäbisch Gmünd fündig zu werden. Ich wußte ja noch nicht einmal, in welcher Richtung ich suchen sollte. Ich hatte halbherzig ein Habilitationsprojekt entworfen und damit einige wenige Bewerbungen laufen, doch der einzige Platz, an dem ich eine Chance gehabt hätte, wäre Stuttgart gewesen, und ausgerechnet hier gab es gerade überhaupt keine Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung, nicht einmal unter anderem Namen. Nach Schwäbisch Gmünd begab ich mich nun nicht, weil der Name der Stadt so schön klingt, und eigentlich auch nicht, weil ich dort eine Arbeit zu finden hoffte. Ich fuhr hin, weil eine gute Freundin von mir, die dort am Krankenhaus arbeitete, mich eingeladen hatte, ein paar Tage bei ihr zu verbringen, um gemeinsam mein weiteres Schicksal zu beratschlagen.
Ich weiß nicht, ob sie schon etwas im Hinterkopf hatte, als ich kam. Zumindest hatte es nicht den Anschein. Wir kamen erst am zweiten Abend darauf zu sprechen, nachdem wir in einer Kneipe bereits einige Halbe getrunken hatten. Es war nämlich so, daß sie mit Freunden versuchte, eine alternative Therapiepraxis aufzubauen. Sie hatten allesamt in Nürtingen Kunsttherapie studiert und wollten ihre Methoden an gutsituierten schwäbischen Hausfrauen ausprobieren. Das Kalkül war, daß in einem Ort wie Schwäbisch Gmünd nicht nur genug Geld vorhanden war, um Kunsttherapeuten ein bescheidenes Auskommen zu garantieren, sondern die Leute alternativen Behandlungsmethoden gegenüber auch aufgeschlossen sein müßten, da es eine Firma gab, die anthroposophische Arzneien und Tinkturen herstellte und die Leute daher mit diesem Genre – diesem Produktspektrum, diesem Marktsegment – vertraut waren. Zusätzlich nahmen sie an, daß es genug wohlstandsfrustrierte Mütter gab, deren Kinder ihnen bereits den Rücken gekehrt hatten und die nun nichts weiter mit sich anzufangen wußten, als kleine psychosomatische Wehwehchen zu kultivieren. Aber Schwaben wären nicht Schwaben, wenn sie sich so leicht für eine Sache begeistern ließen, die nicht ohne einen gewissen finanziellen Aufwand auszukosten war. Die Kollektivpraxis lief denkbar schlecht. Sie knieten sich alle hinein in die Arbeit und waren buchstäblich Tag und Nacht beschäftigt, weil sie noch zusätzlich Geld verdienen mußten. Franziska machte Nachtdienste als Krankenschwester. Andere arbeiteten als Nachtwächter. Und tagsüber boten sie Seminare an, arbeiteten mit ihren spärlichen Patienten im Tonfeld, malten und tanzten sogar, formten, bauten und entwarfen therapeutische Tagespläne. Dennoch war die Auslastung nicht so, daß sie davon hätten leben können. Die Kurse waren zu gering besucht, und es kam nicht genug Geld zusammen.
„Wie wäre es, Rolf, wenn du bei uns mitmachst?“ fragte also Franziska und blies mir den Rauch ihrer Zigarette keck ins Gesicht.
„Ich brauche Geld, Franziska. Es ist nicht so, daß ich um jeden Preis arbeiten müßte. Geld, verstehst du?“
„Jeder muß erst mal was investieren.“
„Ja, dazu wäre ich gern bereit, hätte ich nur etwas zum Investieren.“
„Also würdest du bei uns prinzipiell mitmachen, wenn du erst mal eine Grundversorgung hättest?“
„Ja, meinetwegen“, seufzte ich hilflos und dachte, daß es müßig war, darüber zu reden. Ich war total betrunken, um die Wahrheit zu sagen, und konnte ihr kaum mehr folgen.
„Gut, abgemacht!“ rief sie.
Das rüttelte mich auf.
„Was soll ich denn überhaupt machen? Ich kann weder malen noch kneten. Das weißt du doch.“
„Das kann jeder“, antwortete sie mit einem Lachen. „Das hat man dir doch schon mal erklärt. Selbst Kleinkinder können das.“
Sie spielte mit ihrem verschmitzten Blick auf die Auseinandersetzungen an, die ich vor langer Zeit mit einer Freundin von ihr gehabt hatte. Anke war davon überzeugt gewesen, daß Kunsttherapie eine universelle Heilmethode sei und jedem, auch dem unmusischsten Menschen, nicht nur Glück und Zufriedenheit, sondern auch seelische wie körperliche Gesundheit verhieß. Sie dachte, man müsse die Leute nur dafür öffnen. Anke und ich haben uns nicht sonderlich gut verstanden. Ich hatte versuchsweise mir an ihr die Zähne ausgebissen, als ich ihr zu zeigen versuchte, daß dieser Allmachtsanspruch ihrer Kunsttherapie, wenn nicht hoffnungslos, so doch wenigstens gefährlich und unsympathisch war, während sie umgekehrt mir vergeblich zu beweisen versuchte, daß auch in mir ein Künstler schlummere. Als ich ihr schließlich nachgab und sagte, daß in mir allenfalls ein Ballkünstler gleich Dornröschen den Schlaf der Gerechten schlafe, war sie beleidigt und nervte fortan Franziska damit, was für ein Ignorant ich sei. Offenbar erkannte sie Ballkünstler nicht als Künstler an. Dabei kann es eine ästhetische Erfahrung sein, einem eleganten Ballspieler zuzusehen, und das Frustrationserlebnis ist nicht weniger erschlagend, wenn man es selbst versucht, wie wenn man ein schönes Bild sieht und unfähigerweise etwas Ähnliches malen möchte.
„Anke habt ihr aber nicht noch angeheuert?“ fragte ich.
„Keine Angst“, lächelte Franziska. „Die hat mittlerweile in einer Klinik in Bad Schandau eine reguläre Stelle.“
Sie zog an ihrer Zigarette und überlegte kurz.
„Ja“, fuhr sie fort, „das machen wir. Wir finden schon etwas für dich. Im übrigen glaube ich nicht, daß du kunsttherapeutisch arbeiten mußt. Im Gegenteil, davon haben wir mehr als genug im Angebot. Nein, du machst, was du kannst. Als Philosoph hast du dich mit Glück beschäftigt. Das ist genau, was die Leute brauchen. Meinst du nicht?“
Ich sah sie entgeistert an.
„Na, klar!“ rief sie aus. „Sieh mal, es gibt doch auch Philosophenpraxen. Hast du mir doch selbst mal erzählt…“
„Aber ich habe dir auch erzählt, daß die ebenso erfolgreich sind wie ihr.“
„Miesmacher! Man braucht ein gescheites Konzept. Wir ergänzen uns einfach gegenseitig. Du machst erst mal ein Seminar zum Begriff des Glücks. Das steigert auch unsere Seriosität.“
Wieder lächelte Franziska wie ein kleines Mädchen und zündete sich die nächste Zigarette an.
„Außerdem bist du jetzt Doktor. Das putzt ungemein.“
„Also, darauf hast du es abgesehen. Das meinst du nicht im Ernst!“
„Quatsch! Aber man sollte es auch nicht unterbewerten. Schaden tut es bestimmt auch nicht.“
„Seminar“, wiederholte ich. „Das klingt mir zu sehr nach Volkshochschule.“
„Und wenn schon!“ rief sie, und zum ersten Mal war in ihrer gewohnt leicht zynischen Art zu reden ein Hauch von Empörung zu spüren.
„Du hast ein gutes Herz“, erwiderte ich und tätschelte ihre Hand.
„Macker!“ blaffte sie, lächelte aber schon wieder.
„Komm, bitte!“ sagte sie nach einer kleinen Weile, weiter rauchend. „Versuchen wir es mal. Du hast doch nichts zu verlieren und verpflichtest dich zu nichts.“
„Hast du ‚ne Ahnung“, sagte ich nachgiebig, ohne zu ahnen, daß ich doch etwas zu verlieren hatte. „Aber es ist mir immer noch nicht klar, wie wir das finanzieren sollen.“
„Ganz einfach“, rief sie, energisch den Rauch ausatmend. „Als erstes kündigst du dein Zimmer und kommst zu mir. Dir was zu essen geben kann ich mir gerade noch leisten. Schlafen kannst du im Arbeitszimmer.“
Warum sie das sagte, weiß ich nicht, denn jetzt schlief ich ja auch bei ihr im Bett. Ich antwortete :
„Bei den Lösungsmitteln!? Kommt nicht in Frage!“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Mir ist es egal. Von mir aus kannst du dann auch bei mir schlafen.“
Verwirrt registrierte ich, wie weit ich mich mit meiner Antwort schon auf einen blödsinnigen Plan eingelasssen hatte. Wir brachen auf. Draußen nahmen wir uns erst bei der Hand, dann in den Arm, und schließlich gingen wir engumschlungen durch die Stadt nicht direkt nach Hause. Es fing an zu tröpfeln, und wir blieben stehen, küßten uns, küßten uns länger, wurden naß und nasser, bis wir wirklich klatschnaß waren; und wir küßten uns noch immer. Das war schön. Zuhause bei ihr duschten wir zusammen, und danach schliefen wir miteinander, das erste Mal seit langem. Es war, als besiegelten wir das zuvor besprochene Vorhaben, das mir in der Kneipe noch als alkoholgetränkte Spintisiererei vorgekommen war.
Am nächsten Morgen, einem Sonntag, sah es ganz anders aus. Franziska war wirklich reizend. Während ich mich noch verschlafen in den Laken wälzte, kochte sie Kaffee und brachte das Frühstück ans Bett. So einfach war ich zu becircen. Ich verfluchte insgeheim meine Schwäche und schlürfte selig lächelnd meinen Kaffee. Franziska beugte sich zu mir und gab mir einen Kuß.
Sie stellte den Plan überhaupt nicht mehr in Frage, und selbst meine skeptische Frage, was ihre Kollegen wohl dazu sagen würden und ob sie sich nicht überrumpelt fühlen könnten,wischte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite.
„Die gewinnen dadurch nur“, beschwichtigte sie mich. „Es wird ihnen ja nichts weggenommen. Außerdem werde ich es ihn nicht so sagen, als wäre schon alles geregelt.“
Aber was sie sonst so an diesem Morgen äußerte, ließ auf nichts anderes schließen, als daß die Würfel schon gefallen waren.
Einige Zeit später, ich hatte mein Stuttgarter Zimmer nicht gekündigt, sondern zwischenvermietet, zog ich bei Franziska ein. Von einem Freund hatte ich mir einen VW-Bus geliehen und kam am frühen Abend mit mehreren Bücherkartons an.
„Ich habe es geahnt“, stöhnte Franziska, als ich das dritte Mal die Treppe heraufgeastet kam. „Wozu brauchst du dieses ganze Zeug? Du sollst doch keine Lehrveranstaltung abhalten.“
„Du verstehst davon nichts“, erwiderte ich nur und bat sie, mir wenigstens bei den Regalbrettern zu helfen.
Wir trugen den Rest hoch und bauten anschließend das Regal zusammen.
Bereits in den beiden Wochen zuvor hatten wir uns Gedanken über ein mögliches Konzept gemacht, und Franziska hatte mit ihren Kollegen, die übrigens sehr angetan von ihrer Idee waren, bereits einen Flyer entworfen. Auch hatten sie eine Umfrage bei ihren Patienten gemacht, deren Reaktionen sie alle sehr ermutigte.
„Eine Frau hat gefragt, woher du kommst und was du bis jetzt gemacht hast“, erzählte Franziska später beim Abendessen. „Irgendwie wollte ich nicht sagen, daß du in Stuttgart promoviert hast.“
„Vernünftig“, entgegnete ich. „Das hätte erst mal Unglauben hervorgerufen.“
„Ja, und darum habe ich gesagt, daß du in Frankreich gearbeitet hättest, und zwar in Paris in einer Philosophenpraxis.“
Ich verdrehte die Augen.
„Du kannst doch gut französisch, oder? Das wird schon gutgehen. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß das ein genialer Einfall war. Es macht dich noch attraktiver. Alles, was mit Frankreich zu tun hat, wirkt Wunder.“
Ich stöhnte auf.
„Nachher muß ich einen Französischkurs geben“, murrte ich.
Franziska stand auf und setzte sich mir rittlings auf den Schoß, wobei sie mir ihre bezaubernden nackten Arme über die Schultern legte und in meinem Nacken überkreuzte.
„Sieh mal, du hast doch nichts zu verlieren. Du wohnst bei mir, in deinem Zimmer wohnt ein netter ordentlicher Praktikant. Du arbeitest mit Leuten. Das ist noch nicht einmal vertane Zeit.“
„Gut, gut“, beruhigte ich sie und mich. „Alles kein Problem. Aber eine Bedingung habe ich doch.“
„Hm?“
„Ich möchte nicht unter meinem Namen arbeiten. Das ist mir unangenehm.“
Franziska zuckte mit den Schultern und knöpfte mir das Hemd auf. Sie beugte sich vor, rieb ihren Kopf an meiner Brust und steckte ihre Nase in meine Achselhöhle.
„Wenn es weiter nichts ist“, murmelte sie. „Die Flyer sind glücklicherweise nocht nicht gedruckt. Das können wir noch ändern.“
Am übernächsten Tag betrachtete ich mit gemischten Gefühlen die Werbebroschüre, die ich selbst an verschiedenen Orten in der Stadt auslegen sollte. Sie war ganz ansprechend gemacht, graphisch, meine ich. Ansonsten fiel mir auf, daß ich meinen Namen, seitdem ich promoviert war, noch nie zusammen mit dem akademischen Titel gedruckt gesehen hatte. Das wäre die Gelegenheit gewesen, aber das Seminar sollte ein gewisser Dr. Carol Warthe durchführen; er sollte die Schwäbischen Gmünder über das Glück aus philosophischer Perspektive aufklären. Was das wohl für einer war? Einer meiner neuen Kollegen empfahl mir, es lieber aus lebensphilosophischer Perspektive zu versuchen. Aber ich sagte, das würde doch eine sehr eingeengte Perspektive sein. Franziska habe mir eingeschärft, nicht allzu speziell an die Sache heranzugehen. Erst nach zehn Minuten stellte sich heraus, daß wir jeweils etwas ganz anderes meinten und er, analog zu Franziska, mich ermuntern wollte, mein Seminar und meine Lehre vom Glück möglichst anwendungsbezogen zu gestalten. Keiner von uns wußte, was die Leute erwarteten. Natürlich erhofften sie sich auch eine rasche Einführung in den philosophischen Glücksbegriff von den Anfängen bis in die Gegenwart und eine billige Bekanntschaft mit den großen Namen. Aber zu theoretisch sollte es natürlich nicht werden. Viel Lektüre würde ihnen auch nicht zuzumuten sein, im übrigen sollte ich abwarten. Sicher würde es auch sehr interessierte Teilnehmer geben, und das eigentlich Schwierige würde sein, einen Mittelweg zu finden. So wie an der Uni eben auch. Überhaupt sollte das Seminar nur ein Einstieg, eine Art semesterbegleitende Veranstaltung sein. Die Aufgabe bestand darin, mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen, wie ich zu sagen mir anzugewöhnen angehalten wurde, pardon, mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, Einzelstunden zu verabreden, in denen ich meinen philosophischen Sachverstand zur vollen Entfaltung bringen konnte.
„Ist das nicht ein bißchen fahrlässig, jemanden wie mich einfach so mit einer Therapeutenfunktion zu betrauen?“ hatte ich skeptisch gefragt.
Rainer klopfte mir auf die Schultern.
„Franziska bürgt für dich und deine vernünftige Art, mit Leuten umzugehen. Glaub doch nicht, daß die Masse von Therapeuten und Heilpraktikern so viel gesunden Menschenverstand hätten, daß sie wüßten, wen sie in einem konkreten Fall vor sich haben. Wir aber haben den, und du auch.“
Das überzeugte mich. Und ich schlug mir Szenarien von der Art, daß mich reihenweise hysterische Selbstmordkandidatinnen heimsuchen würden, aus dem Kopf.
Die Tasche voller Flyer begab ich mich also auf einen Stadtrundgang, der mich unter anderem auch zu der örtlichen Bücherei führte, zu der veritablen Stadtbibliothek am Spitalhof, um dort im Foyer für Herrn Dr. Carol Warthe zu werben. Ich will nicht lästern. Natürlich konnte ich nicht erwarten, daß in der Bibliothek irgendwelche Raria vorhanden waren. Trotzdem setzte ich mich an den Computer, um den Bestand mit Blick auf das Glück zu kontrollieren. Sie hatten tatsächlich auch ganz lustige alte Sachen, die man natürlich nicht entleihen konnte, sondern, nachdem man den Benutzerausweis hinterlegt hatte, nur unter den strengen Augen einer Bibliothekarin am Sonderarbeitsplatz mit spitzen Fingern durchblättern durfte. Den Ausweis zu bekommen stellte glücklicherweise kein Problem dar. Ich legte einen meiner Flyer auf den Thresen und sagte, auf den Namen deutend, daß ich das Seminar leiten würde und (natürlich verschmitzt lächelnd) diese Gelegenheit zur persönlichen Werbung nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. Ich verstand selbst nicht, welcher Teufel mich ritt, indem ich um jeden Preis meinen wahren Namen verschleiern wollte.
Ich hatte mich mal um die Aristoteles-Rezeption im Frankreich des 17. und 18. Jahrhundert gekümmert, und so konnte ich mit den wenigen französischen Bänden aus dieser Zeit auch etwas anfangen. Staunend beobachtete mich die noch sehr junge Frau aus den Augenwinkeln, wandte sich aber bald von mir ab, um sich mit einer Kollegin, die hinter einer Säule stand, zu unterhalten. Sie unterhielten sich über ihre Vornamen, Carolin und den anderen verstand ich nicht, die sie beide nicht leiden konnten. Diese andere seufzte sogar besonders laut, was mich ein bißchen neugierig machte.
Nach einer Weile veließ Carolin, die mir das Buch ausgehändigt hatte, den hier sogenannten Servicebereich. Auch ich erhob mich bald darauf, um das Buch wieder abzugeben.
Die Frau ohne Namen war inzwischen vor der Säule aufgetaucht und blätterte Karteikarten durch, eine Bewegung, die in den Zeiten der digitalen Kataloge ein Anachronismus ist, zugleich aber so bezeichnend für den Beruf des Bibliothekars und der Bibliothekarin und so sinnlich, wenn die blätternden Finger so lang und zart, so feingliedrig und graziös sind wie die jener Frau, die mich nun bediente.
„Ihr Name?“ fragte sie. Offensichtlich waren die Ausweise alphabetisch geordnet, doch wunderte mich, daß es noch mehr Leute gab, die ihren Ausweis hinterlegt hatten.
„Warthe“, sagte ich ob dieser Überlegung etwas verwirrt, aber dennoch geistesgegenwärtig genug, um in dieser Stadt nur den einen Namen zu führen.
„Wie bitte?“ fragte nun sie ihrerseits etwas irritiert.
„Warthe, bitte“, wiederholte ich unpassenderweise ihr „bitte“ und kramte in meinen Aufzeichnungen, was offensichtlich den Eindruck bei ihr weckte, ich würde dort nach meinem Namen suchen.
Verdattert schaute ich auf.
„Entschuldigung, ich heiße Warthe, mit t-h. War-t-h-e – auf mich nach Dienstschluß.“
Ich war stolz auf meinen spontanen Scherz mit dem noch ungewohnten Namen.
Das konnte sie natürlich nicht wissen. Aber anstatt sich von so einem blöden Scherz beschämen zu lassen, reagierte sie ganz souverän.
„Ich würde ja gern Sechsuhr heißen, aber da muß ich Sie enttäuschen.“
„Wie heißen Sie denn?“ fragte ich zurück.
„Schuster.“
„Ach so, nein, ich meinte eigentlich Ihren Vornamen.“
Das traf sie dann doch etwas unerwartet. Sie war an kleine Wortwechsel mit den Leuten sichtbar gewöhnt, aber als der Ball noch ein zweites Mal in ihr Feld geschlagen wurde, entsprach es schon nicht mehr dem gewohnten Kundenverhalten. Sie verlor nicht gerade ihre Contenance, aber es war klar (und es war auch gemein), daß ich sie auf etwas ihr Unangenehmes angesprochen hatte, wissentlich noch dazu. Ich hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und ihr über das schulterlange dunkle Haar gestrichen und gesagt, daß es nicht so gemeint gewesen sei. Man sah ihr an, daß ihr eine Abfuhr auf den Lippen lag, übrigens schönen, nicht zu vollen, aber schwungvollen Lippen. Etwa von der Art: Ich wüßte nicht, was Sie das angeht. Aber da man ihr eingeschärft hatte, auch bei milden Unverschämtheiten der Kunden freundlich zu bleiben, sagte sie nur:
„Um Ihnen weitere Recherchen zu ersparen: ich heiße Godzina.“
„Aber das ist doch ein schöner Name“, entfuhr es mir.
„Bitte?“
„Ja, ein schöner Name. Tut mir leid, ich habe vorhin euer Gespräch mitangehört, den Namen aber nicht verstanden. Deshalb war ich so neugierig. Jetzt ist mir das richtig unangenehm, wenn ich damit … Also, über die erste Silbe kann man streiten. Aber Zina finde ich wirklich sehr schön. So nennen dich doch bestimmt auch die meisten, nicht wahr?“
Sie nickte.
„Mein Bruder heißt Gottlieb“, sagte sie und zuckte herrlich schicksalergeben mit den Schultern. „Keine Ahnung, wie meine Eltern auf Godzina gekommen sind. Es ist jedenfalls kein traditioneller Name, ich glaube, es heißt tatsächlich kein anderer Mensch so, obwohl Zina oder Sina nicht so selten sind.“
„Zum Beispiel Frank Sinatra“, warf ich ein.
Sie lächelte. Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß sie meinen Humor verstand.
Ich steckte den Ausweis in mein Portemonnaie.
„Bevor ich jetzt ein paar Mal vergeblich komme, um dich hier zufällig anzutreffen, würde ich mich, ehrlich gesagt, lieber gleich mit dir verabreden. Bleibt es bei sechs Uhr nachher?“
Sie musterte mich. Lange musterte sie mich. Ich fand es total schön, daß sie sich diese Zeit nahm und sich nicht aus der Fassung bringen oder durch mein Insistieren verwirren ließ.
„Ja, gut, bis dann“, antwortete sie, nahm mein Buch auf und drehte mir den Rücken zu.
Der aufmerksame Leser merkt natürlich sofort, daß sich hier ein Konflikt anbahnte. Was immer zwischen Franziska und mir im Gange war, es war nicht davon auszugehen, daß es bei dem Treffen mit Zina bei einem einmaligen Kontakt bleiben würde. In dieser Richtung verliefen auch meine Überlegungen während meines weiteren Rundgangs durch die Stadt, der mich gegen sechs schließlich wieder am Spitalhof anlangen ließ. Meine Überlegungen betrafen Grundsätzliches. Zina war nur der Anlaß, der sich früher oder später ereignen mußte. In diesem Fall kam er eben eher früh. Was sollte mit Franziska und mir geschehen, wenn sich einer von uns – und das war am wahrscheinlichsten ich – umorientieren sollte? Einen Fehltritt würde Franziska mir verzeihen, auch zwei oder drei. Wenn ich aber in dieser Zeit anfangen würde, ständig außer Haus zu bleiben, um nur alle paar Tag zum Rasieren und Bücher holen zu kommen … Nun, vielleicht würde sie auch das dulden, überlegte ich mir, denn dann hatte sie ihre Ruhe, und ihr Leben würde im Grunde nicht anders verlaufen als vor meiner Ankunft in Schwäbisch Gmünd. Und sie war nicht sentimental. Meine Sachen in ihrer Wohnung würden sie nicht weiter stören. Ich gab mir freie Hand. Auch die Tatsache, daß wir uns durch den Therapiebetrieb aneinander gekettet hatten, schreckte mich nicht. Wir waren erwachsene Menschen, kannten einander seit vielen Jahren und wußten, was wir voneinander zu halten hatten. Ihr lag an meiner Mitarbeit. Und daß dieser Umstand auch ein vorgeschobener Grund hätte sein können, um mich in ihre Nähe zu lotsen, ignorierte ich einfach. Auch das wußte sie.
„Hallo!“ rief mir Zina zu, als ich mich dem Treffpunkt näherte.
Wir gehen zu mir, mußte Zina bereits gedacht haben, als wir uns begrüßten. Statt dessen aber überlegten wir gemeinsam, was wir machen könnten. Essen gehen wollte sie nicht. Aber Hunger hatte sie auch, und so gingen wir kurz in einem Supermarkt einkaufen, um bei ihr zu kochen.
„Ich bin gerade allein“, hatte sie beiläufig gesagt, um mir eine Alternative für das Essengehen anzubieten. „Kochen wir bei mir etwas, ja? Dann können wir immer noch entscheiden, was wir machen.“
Soll ich ihn jetzt so schnell beschreiben, wie der Abend verlief? Na, gut: Nach dem Einkauf kochten wir ein schnelles Gemüsegericht mit einer Sahnesauce. Dann ließ sie sich von mir ausziehen, wir schliefen miteinander, und zum Schluß brachte sie mich zur Tür – es war gerade halb neun! –, und zwar mit den Worten:
„Du wirst verstehen: das war eine absolute Ausnahme. Bitte, komm’ nicht mehr in die Bibliothek, um mich zu sehen. Du weißt, wo ich wohne, und ich habe – in dieser kleinen Stadt sowieso – nichts, um mich vor dir schützen zu können. Aber laß mich bitte in Ruhe. Es ist nicht böse gemeint.“
Und draußen war ich. Der Hintergrund für ihre Worte lag auf der Hand, schon als ich die Wohnung betreten hatte. Sie war verheiratet, wie aus dem Türschild hervorging, und sie hatte wohl auch ein Kind. Von der Wohnung hatte ich nur die Küche, das Bad und den fensterlosen Flur mit dem bequemen weichen Sessel neben dem Telephon gesehen. Aber es gab untrügliche Anzeichen für einen kleinen Mitbewohner. Sie hätte auch mit ihrem Bruder zusammenwohnen können, und der kleine Mensch, dessen Spuren in Form von Spielzeug selbst unter dem Sessel hervorsahen, hätte lediglich ihr Patenkind oder Nichte oder Neffe sein können. Es hätte noch viel mehr der Fall sein können. Aber ich war mir sicher, daß ich gerade einen unsichtbaren Keil in eine Familie getrieben hatte.
Ich beschloß, diese Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Es war ja auch überhaupt nicht klar, was ihr Motiv bei dem Verlauf dieses Abends gewesen war. Neugier wie bei mir? Verzweiflung? Nymphomanie? Zumindest eines aber war klar: mit Franziska würde es jetzt erst einmal doch zu keinem Konflikt kommen.
Ich ging in eine Kneipe. Gut fühlte ich mich nicht. Sogar wie ein Idiot kam ich mir vor. Und das Gemeinste war, daß ich nun nicht aufhören konnte, an Zina zu denken. Was steckte dahinter? Sie besaß Menschenkenntnis. Sie wußte, daß ich sie nicht bedrängen würde, und vielleicht wußte sie auch, daß es mich beschäftigen und – weil ich ihren Wunsch respektierte – quälen würde. Weil sie wußte, daß ich sie in Ruhe lassen würde, hatte sie sich auf das Abenteuer eingelassen. Um sich dessen aber sicher sein zu können, muße man ein Gefühl für den anderen haben, mußte ihn verstehen können in seinem Sein. Und mich hatten solche Frauen schon immer in Verwunderung versetzt, denen ich mich nahe fühlte und von denen ich glaubte, daß sie sich mir nahe fühlten, die dann aber den Kontakt von sich aus abbrachen; denn ich unterstellte ihnen, daß sie wie ich den Kontakt zu Leuten, denen man sich nahe fühlt, halten und vertiefen wollten. Aber genau das konnte und wollte sie sich wohl nicht leisten. So etwa gingen meine Gedanken, bis sie sich im Bier auflösten und ich nach Hause wankte, zu Franziska nach Hause, wo ich mich allein ins Bett legte, weil Franziska Nachtschicht hatte.
Nach einiger Zeit war es soweit. Mein Seminar begann. Es hatte schon einige Anmeldungen gegeben, aber zum ersten Termin kamen doch weit mehr Leute, als abzusehen gewesen war. Die Episode mit Zina steckte mir noch in den Knochen, und ich war nicht sehr begeistert, als ich sie unter den Leuten entdeckte, die in der Mehrheit tatsächlich Frauen waren. Neben ihr saß ihre Kollegin, die mir den Ausweis ausgehändigt hatte.
Nach einigen einleitenden Worten verteilte ich einen Fragebogen, in dem ich sehr konkrete Fragen zum erwünschten Verlauf des Seminars und den allgemeinen Erwartungen stellte. Sie sollten ihn zunächst einmal überfliegen und mir dann zuhören. Ich stellte meinem Auditorium mehrere Alternativen zum Seminarverlauf vor und kombinierte sie mit einer kurzen Einführung in den philosophischen Glücksbegriff. Dann gab ich ihnen viel Zeit für die Fragen und ging herum, um mich für einen ersten persönlicheren Kontakt zur Verfügung zu stellen. Die Leute machten alle einen sehr ernsten, sehr interessierten Eindruck. Vor allem nahmen sie mich ernst. Diese Erfahrung war mir nicht ganz neu, muß ich sagen, denn ich hatte auch schon an der Uni als Lehrbeauftragter Seminare geleitet, aber es war hier doch noch einmal etwas anderes. Ich merkte, daß ich ankam.
Langsam arbeitete ich mich zu Zina und ihrer Kollegin vor. Und es war vor allem diese, die mich mit Fragen in Beschlag nahm, während Zina stumm daneben saß, aber offenbar zuhörte. Ich schloß daraus, daß es auch ihre Kollegin gewesen war, die sie hierher mitgenommen hatte, während Zina womöglich nur mitgekommen war, um keinen Verdacht zu erregen. Aber vielleicht war auch Neugier dabei. Was für ein Verdacht sollte erregt werden, wenn Zina keine Lust auf Philosophie hatte?
Da es so vielversprechend lief, gab ich am Schluß die Möglichkeit zu Einzelgesprächen bekannt. Das fand ich ein bißchen perfide, aber wir hatten es so abgesprochen. Und es war einfach nicht anders zu finanzieren als durch zusätzliche Privatstunden. Ich versprach meinen zukünftigen Patienten oder Klienten – wie auch immer – nichts, und das schuf Vertrauen. Meine Seriosität stieg ins Unermeßliche. Aber es fiel mir leicht. Natürlich hatten mittelalterliche Aristoteliker nicht den Königsweg zum Glück gefunden, und noch weniger ließ der sich irgendwo nachlesen. Aber das erwartete auch keiner (obwohl ich ihnen das menschenverachtenderweise anfänglich unterstellt hatte). Ich pries mich gewissermaßen als heuristisches Werkzeug an, was auf nichts anderes hinausläuft als auf die Funktion,die Psychotherapeuten gemeinhin in bezug auf minderschwere psychische Wohlstandsneurosen erfüllen. Ich sagte ihnen, daß ich den restlichen Tag Sprechstunde für Voranmeldungen hätte. Ganz am Schluß verteilte ich eine Schlüsselpassage aus der Nikomachischen Ethik gewissermaßen als Hausaufgabe.
Zur anschließenden Sprechstunde kamen lange nicht so viele, und es waren nur Frauen. Aber die, die kamen, gingen nicht ohne eine feste Terminzusage. So auch Carolin Fischer, Zinas Kollegin, die ich ein wenig merkwürdig fand, weil sie ständig auf meine persönliche Werbung anspielte. Sie sollte eine meiner eifrigsten Schülerinnen werden, während Zina wegblieb.
Die kommenden Wochen vergingen wie im Fluge, und die Arbeit machte mir Spaß. Es war ganz anders als an der Uni. Die meisten Teilnehmer hatten relativ viel Zeit, sprich, sie hatten keine konkurrierenden Seminare, die ihnen Zeit und Energie raubten. Im Gegenteil, sie konnten sich ganz auf meine wenigen Texte konzentrieren, und die Begeisterung wuchs so sehr, daß ich mit der Hälfte der Teilnehmer einen zweiten wöchentlichen Termin vereinbarte, für den sie mir ein großzügiges Honorar zahlten. Ich gewöhnte mir an, an diesem zweiten Tag eine längere Pause zu machen und mit den Leuten einen kleinen Rundgang zu machen, was wahre Wunder wirkte. Die Peripatetiker von Schwäbisch Gmünd. Das Konzept ging auf. Es gab bereits Anfragen für das nächste Semester, und meine Gemeinde wuchs. Hatte die Nachfrage erst mal ein bestimmtes Potential erreicht, stellte sich eine Eigendynamik ein, wie sie bei allen gesellschaftlichen Moden wirkt. Meine Kollegen Kunsttherapeuten neideten es mir nicht lange, sondern richteten den kommenden Semesterplan auf die aktuellen Bedürfnisse ein. Ich überließ Rainer, der sich auch mit Philosophie befaßt hatte, mein Konzept und arbeitete für mich ein neues aus.
Die Privatstunden entwickelten sich zu psychotherapeutischen Sitzungen, und ich kam wegen der persönlichen Verantwortung in schwachen Momenten regelrecht ins Schwitzen. Ich versuchte, einen Weg durch das Dickicht fremder Ausweglosigkeit zu finden. Am liebsten hätte ich eine Machete benutzt, aber geboten war doch, sich mit der bloßen Hand vorzutasten, die Zweige beiseite zu halten, um den Weg zu prüfen und vorsichtig einen Fuß voranzusetzen. Aber einen Schritt weiter sah es natürlich auch nicht anders aus als am Ausgangspunkt.
Dabei waren die Probleme durchaus ernst, wenn man die Befindlichkeit der jeweiligen Person berücksichtigte. Aus einer Perspektive, die die Schicksale auch der Menschen in anderen Erdteilen einschloß, sah das anders aus. So bestand meine Hilfestellung schließlich darin, meinen Gesprächspartnern eine Stufe zu bauen, auf der sie von sich selbst zurücktreten konnten, um so etwas wie einen Überblick über die verfahrenen Situationen zu bekommen. Carolin Fischer entwickelte sich in der Tat rasch zu einer Art Musterschülerin. Sie versuchte, meine Analyse des Glücksbegriffs im Seminar auf unsere privaten Gespräche zu übertragen. Während die anderen Klienten sehr rasch ihr Privatleben und ihre damit verbundenen Vorstellungen vom Glück zur Sprache brachten, war Carolin Fischer diesbezüglich zurückhaltend und versuchte ständig, mich philosophisch festzulegen. Sie brachte mich sogar so weit, sie selbst nach ihrem Privatleben auszufragen.
„Vielleicht leben Sie mit einem Mann zusammen“, fing ich an, um ihr einen Sachverhalt zu illustrieren, „und der verliebt sich in eine andere Frau und sagt Ihnen, daß er ihnen beiden keinen Gefallen tut, wenn er unaufrichtigerweise die Finger von jener Frau läßt. Darüber hinaus will er aber auf jeden Fall mit Ihnen zusammenbleiben und gibt zu bedenken, daß eine gemeinsame Zukunft nur gewährleistet ist, wenn Sie ihn nicht zu sehr einengen. Dagegen argumentieren Sie, daß er, wenn er sich dieses voraussichtliche Vergnügen versagt, von selbst bald die Lust an der Vorstellung verlieren wird, verschweigen aber dabei die ganzen anderen fälligen Argumente, daß sein Fremdgehen ihr gemeinsames Glück in Frage stellen würde usw. usw.“
„Ich habe aber keinen Mann zuhause“, sagte sie nur, ohne auf das einzugehen, was ich wollte, und fragte mich dann umstandslos nach meinem Leben aus. Vor allem interessierten sie meine Beziehungen zu Frankreich. Hier mußte ich aufpassen, denn dieser Abschnitt war ja sehr in den Vordergrund gerückt worden, als es um die promotion ging. Aber was ich ihr erzählte, war nicht unwahr. Ich selbst spielte die Bedeutung Frankreichs für mich herunter, da ich es auch gar nicht mehr einsah, diesen biographischen Aspekt weiter instrumenalisieren zu müssen. Schwachsinnig hatte ich das ja sowieso gefunden.
Franziska und ich lebten in der verhältnismäßig engen Wohnung verhältnismäßig harmonisch zusammen. Wir hatten beide viel zu tun, und wir freuten uns beide, wenn wir abends einander in den Armen lagen. Das nennt man wohl Glück. Aber wie es so ist mit dem Glück – es ist nicht von Dauer. Das sagt ein echter Profi. Es zeichnete sich ab, daß ausgerechnet die attraktivsten Damen meines Kreises um Privataudienzen ersuchten. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Sieht man sich in der entsprechenden Fachliteratur um, handelt es sich um ein sehr gewöhnliches Problem, aber in meinem Fall war es so konzentriert, wie wohl selten. Denn ausnahmslos jede von ihnen, die außer Carolin alle in wohlgeordneten Verhältnissen lebten, fingen ein Verhältnis mit mir an. Und ich ließ es geschehen, ja. Es war dabei eine unausgesprochene Vereinbarung, darüber nichts nach außen dringen zu lassen, und keine hatte den Anspruch, mit mir über alle Berge zu fliehen, um ein neues Leben zu beginnen. Es war vereinbartes Glück, und ich muß sagen, daß die Seinsweise eines Geliebten in höherer Potenz sehr erfüllend ist. Jede war anders, jede auf ihre Weise kreativ, und ich muß zynischerweise bekennen, daß mein Behandlungserfolg, mein legendärer Ruf schließlich eben darauf beruhte – sowie darauf, daß es dieses grundlegende Einverständnis gab, verglichen mit einem Lebensalter nur über eine kurze Periode miteinander zu schlafen.
Carolin war auch hier die einzige Ausnahme – zunächst. Vor allem aber sank mein Zärtlichkeitsbedürfnis gegenüber Franziska, und ich fiel abends einfach nur noch ins Bett und schlief sofort ein. Franziska war ziemlich verdattert, als dieses Benehmen anhielt.
„Diese ständigen Therapiegespräche sind einfach zu anstrengend auf die Dauer“, gab ich am Anfang noch vor. Aber eben. Unsere gute Laune wurde einer schweren Herausforderung unterzogen und hielt nicht an. Sie konnte es sich nicht erklären, denn für sie war es unvorstellbar, wie ich gerade meine Stunden bestritt. Und das machte sie um so trauriger. Sie sagte, sie könne nicht mehr mit mir zusammenwohnen. Gleichzeitig wollte sie mich auch nicht hinauswerfen, aber sie konnte meine Gleichgültigkeit nicht ertragen, und selbst wenn ich mir Mühe gab, nicht gleichgültig zu sein, entging ihr genau dies nicht: daß ich mir Mühe geben mußte. Selbst die Wochenenden brauchte ich, um mich zu regenerieren.
Eines Tages erkannte ich, wie sehr ich mich verrannt hatte. Ich wollte nicht so weiter machen. Für eine Zeit war es lustig gewesen, und ich fühlte mich wohl in diesem Zustand fortgesetzter Erregung und Begehrtheit. Ich traf also Vorkehrungen und teilte meinen Damen einzeln mit, daß es eine verstärkte Nachfrage gebe und ich nicht vorhätte, länger als ein Semester mich nur um einen erlauchten Kreis von Klienten zu kümmern. Schließlich sei ich kein Therapeut. Die eine murrte, die andere zuckte mit den Schultern, aber ich hatte doch den meisten so viel Bestätigung gegeben, daß sie das Gefühl hatten, etwas über sich erfahren zu haben und sich selbst wieder attraktiv zu finden – offenbar ein Zustand, der nicht recht familienkompatibel ist.
Allein Carolin scherte aus. Auch sie schlief inzwischen mit mir. Aber sie hatte sich wohl auch in mich verliebt und wollte mich nicht so einfach loslassen. Sie war seltsam gesichtslos. Jetzt, da ich dies schreibe, kann ich mich an ihre Züge schon gar nicht mehr erinnern. Sie war nicht häßlich, nicht hübsch. Aber ich habe ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken an sie. Wir schliefen immer in vollständiger Dunkelheit miteinander, und sie ließ sich niemals von mir ausziehen. Doch das war es nicht. Bei ihr wurde mir nämlich bewußt, daß sich bereits ein Automatismus eingestellt hatte, und bei ihr war dieser Automatismus ganz nackt. Ich begehrte sie nämlich gar nicht. Aber ich schlief mit ihr, weil mir nichts Besseres mehr einfiel. Wir hatten am Anfang gute, spannende Gespräche geführt, aber sie verflachten nach und nach, und während dessen kam die Sexualität ins Spiel. Übrigens kann ich gar nicht genau sagen, was zuerst da war, Sexualität oder uninteressante Gespräche. Aber bald schliefen wir nur noch miteinander, wenn sie zum Einzelgespräch kam. Ich unvorsichtiger Narr ging sogar auf ihren Vorschlag ein, zu ihr nach Hause zu kommen, wie um einen Hausbesuch zu machen, nachdem sie mich darauf aufmerksam gemacht hatte, daß die anderen, meine Kollegen, unser Verhältnis doch noch spitz kriegen könnten. Außerdem fühlte sie sich in der Umgebung gehemmt und wollte nicht mehr auf mögliche Mitwisser achtgeben. Das Therapeuten-Patienten-Vehältnis pervertierte zusehends. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich mußte Carolin von mir abbringen. Aber sie ließ sich nicht beirren, sondern nahm mich immer mehr ein und sah in mir bereits ihren Partner, was sie während eines Gesprächs sehr deutlich zum Ausdruck brachte.
„Ich möchte diese Geheimniskrämerei nicht mehr“, sagte sie und nahm den von uns gemeinsam zubereiteten Auflauf aus dem Ofen.
„Wieso Geheimniskrämerei? Ich bin heute abend offiziell bei Dir eingeladen. Das habe ich auch Franziska gesagt.“
„Du weißt ganz genau, was ich meine“, erwiderte sie ungeduldig. „Um heute abend geht es nicht!“
„Na gut, aber ich habe Dir schon einmal gesagt, daß ich unser Verhältnis nicht bekannt machen möchte…“
„Weil Du einen Ruf zu verlieren hast?“
„Weil es ohnedies nicht weitergehen kann.“
Sie hatte den Auflauf auf den Tisch gestellt, und der Dampf umnebelte ihr Gesicht mir gegenüber. So offen hatte ich es ihr bisher nicht gesagt.
„Warum hast du mit mir geschlafen?“ fragte sie dumpf.
Ich hatte keine Antwort.
„Du gehst jetzt besser“, sagte sie, stand auf und stellte sich an die Tür, durch die ich mit dem Gefühl schritt, daß das nicht ihr letztes Wort gewesen war. Aber an diesem Abend passierte nichts mehr.
Am nächsten Abend hatte ich gerade eine Patientin verabschiedet, als es klopfte. Schon auf eine komplizierte Auseinandersetzung gefaßt, sah ich mich zu meiner Überraschung Zina gegenüber. Sie lächelte nicht.
„Ich bin wegen Carolin da.“
Ich bat sie herein, und sie legte ihren schweren schwarzen Mantel ab, setzte sich jedoch nicht.
„Es mag öfter passieren, daß ein Therapeut mit seiner Patientin ein Verhältnis …“
„Wem sagst du das“, murmelte ich dazwischen.
„Ja, aber das entschuldigt die Angelegenheit nicht. Es ist immer unfair vom Therapeuten, aber manchmal ist es fahrlässig. Du weißt fast nichts von Carolin. Ihr habt euch immer nur abstrakt unterhalten. Und mag sie auch ein erwachsener Mensch und für sich selbst verantwortlich sein: jetzt ist sie stark gefährdet. Sie ist wie besessen.“
„Vielleicht steht es mir nicht zu, dich zu beschwichtigen. Aber sieh mal, es ist gerade ein Tag her. Natürlich ist sie jetzt sehr aufgeregt.“
Zina blickte mich an, als wollte sie sagen: Hast du eine Ahnung!
„Du meinst, sie ist gefährdet, sich etwas anzutun?“ fragte ich.
„Etwas tun wird sie bestimmt. Aber ob sie sich selbst zum Opfer macht, bezweifle ich, ehrlich gesagt.“
Sie griff nach ihrem Mantel und verließ grußlos den Raum.
Ich stand nicht direkt mit offenem Mund da, aber etwas geschockt war ich doch. Zina war eine tolle Frau, und sie verstand es, sich in Szene zu setzen. Keine Frage. Sie blieb einem im Gedächtnis. Aber das war nun ein Auftritt, den ich nach einigem Überdenken schließlich doch überzogen fand. Doch sollte sie recht behalten.
Allerdings wurde Carolin nicht handgreiflich, oder so, wie ich zunächst vermutet hatte. Sie sagte auch niemanden außer Zina etwas über unser Verhältnis, und zunächst ging das Leben weiter wie bisher – mit der einzigen Ausnahme, daß Carolin nicht mehr kam. Das Semester ging ohnedies zu Ende, aber den anderen Teilnehmern blieb nicht verborgen, daß mit ihr etwas passiert war. Sie besuchten sie und teilten mir in der nächsten Sitzung mit, daß sie zwar von Carolin empfangen, aber im nächsten Moment sofort wieder hinausgeworfen worden waren. Seltsam war es schon. Vor allem war es seltsam, daß gerade zwei Frauen aus der Gruppe bei ihr gewesen waren, mit denen ich ebenfalls ein Verhältnis hatte (und das ganz ruhig seinem Ende zuging – das will ich betonen). Eine absurde Situation. Wenn die Damen und Herren von dieser Sache erführen, so dachte ich in dem Augenblick, als ich vor ihnen saß, würde es einen schönen Skandal geben. Eine erschreckende Vorstellung, wie sie in gewissem Sinne hintergangen wurden. Andererseits schadete ich damit niemanden (auch Carolin schadete ich nicht mit dem Verschweigen). Es war auch lustig. Man soll sich nichts vormachen. Ich denke gern an diese Zeit zurück.
Vor allem diese Veranstaltung an jenem Abend, die zugleich die letzte werden sollte, war eigentlich ein großer Spaß. Die Tafel im Rücken, saß ich auf dem Tisch und ließ die Beine baumeln, eine Körperhaltung übrigens, die man als Erwachsener viel zu selten einnimmt. Meine Blicke schweiften über das Publikum, und ich vergegenwärtigte mir meine Beziehungen zu den einzelnen Personen und empfand eine Art Rausch, als ich diese angezogenen Menschen sah, von denen ich eine ganze Reihe ohne Bekleidung kannte.
Die erste Stunde gestalteten meine „Seminaristen“ sehr eigenständig, und ich hing meinen Gedanken nach. Bald machten wir unsere Pause und gingen um den Block. Als wir zurückkehrten, setzte ich mich wiederum auf den Tisch und setzte meine Betrachtungen fort. Dabei fiel mein Blick auf die Blicke, die an mir vorüberglitten, als sei ich ein Gegenstand, an dem sie abrutschten, sobald sie mich zu fixieren versuchten. Langsam drehte ich mich um und sah, daß die Tafel voll beschrieben war.
„Vor Ihnen sitzt ein Mensch, der ein Lügner ist, ein Hochstapler, ein gefährlicher Scharlatan. Ein SCHARLATAN!!! Sehen Sie, wie dieser Mensch heißt? Haben Sie sich seinen Namen angesehen? Er heißt Carol Warthe. Er soll in Frankreich studiert haben und hat uns schon selbst Kostproben seiner Französischkenntnisse gegeben. Sehen Sie sich diesen Namen genau an! Übersetzen Sie ihn ins Französische! Was sehen Sie? „Carol“ ist einfach. Auf französisch heißt er Charles. Aber Warthe? Wie heißt „Warthe“ auf französisch? Nein, es ist nicht der Fluß in Polen. Es ist natürlich eine Verbform. Und was erhalten wir, wenn wir das Verb „warten“ ins Französische übertragen? Was, wenn wir den Imperativ nehmen? Attends, genau. Und wie lautet dieser Name zusammen mit dem Vornamen. Richtig: Charles Attends. Wie SCHARLATAN!
Das hatte unverkennbar Carolin geschrieben. Das war auch den anderen klar. Ratlos sahen wir uns an, und mir wurde auf einmal heiß. Sehr heiß sogar. Sollte mir jetzt eine harmlose Spielerei zum Verhängnis werden? Mir wurde plötzlich klar, daß Carolin mir nachspioniert hatte und auf das Pseudonym aufmerksam geworden sein mußte. Natürlich war mir diese französische Variante vorher nicht bewußt gewesen. Für das Pseudonym hatte ich einfach meinen eigenen Namen abgewandelt: aus Rolf Rechta wurde Carol Warthe, eine Buchstabenspielerei, ein harmloses Anagramm. Aber es war sicherlich keine feine Sache, unter falschem Namen einen Therapeuten zu mimen. O weia.
Es war allen Anwesenden klar, daß Carolin – Carolin! diese idiotischen Namen – ein Problem mit mir hatte, und einige von den Frauen ahnten nun mit Sicherheit auch, welcher Art es war. Sie wußten aber nichts von dem Pseudonym, und sie ahnten auch nichts von einer anderen Sache, die mir jedoch vor allem Sorgen bereitete. Ich entschied kurz entschlossen, sie nach Hause zu schicken.
„Es wird vermutlich ein Problem geben“, sprach ich. „Ironischerweise ist mein Name gar nicht Warthe. Es ist sozusagen mein Künstlername, allerdings inoffiziell. Na, bitte, geht jetzt! Das wird sich noch früh genug aufklären.“
Sie gingen an mir vorbei mit besorgten Gesichtern, einige deutlich verwirrt, andere mit Sympathie. Ich ging ins Büro, um Franziska anzurufen, doch so weit kam ich gar nicht mehr. Kaum waren die einen verschwunden, kamen die anderen zur Tür herein, grün angezogen, die Jäger des Staates, und ich auf der Bühne der Scham.
„Herr Rechta? Es liegt eine Anzeige gegen Sie vor. Wegen Vertrauensmißbrauchs und Irreführung in Ihrer Eigenschaft als Therapeut, wegen Verletzung der Meldepflicht und wegen Urkundenfälschung.“
Zum Verhängnis wurde mir tatsächlich jener Bibliotheksausweis, den mir Carolin seinerzeit ausgestellt hatte. Aber es lief alles glimpflich ab. Es kam noch nicht mal zu einer Verhandlung. Günstig wirkte sich aus, daß ich gar keine Urkunde gefälscht, sondern nur einen anderen Namen angegeben hatte. Carolin hätte selbst Schwierigkeiten bekommen können, wenn sie auf einer Verhandlung bestanden hätte, da sie es versäumt hatte, sich zur Bestätigung meiner Identität von mir ein Dokument zeigen zu lassen. Trotzdem war meine Integrität natürlich dahin. Es war nicht gerade so, daß ich, an einen Balken gefesselt, geteert und gefedert aus Schwäbisch Gmünd herausgetragen wurde. Aber niemand hing so richtig an mir. Nicht einmal Franziska hatte Verständnis für mich. So kündigte ich meinem Stuttgarter Untermieter, damit noch einen weiteren Menschen ins Unglück stoßend, und bezog den Platz am Schreibtisch, meinem einzigen Vertrauten, der alles duldet, was ich auf ihm aufzeichne, und der, robust und unverwüstlich, allen menschlichen Schwächen standhält.
(2002)