21. September 2005

Wollt ihr ewig leben ?

 

Zwei Jahre nach der „Suche nach Glück“ also die Wiedergeburt. Am Anfang dieses Gedichtbandes könnte man noch denken: Typisch Houellebecq, da sind mal wieder die tristest möglichen Situationen und Örtlichkeiten aufgesucht und, von ihrer unauffälligen Banalität, die sie möglicherweise umgibt und von ihrem aggressiven Angehenspotenzial enthebt, nicht länger geschützt, in lyrisch-antilyrischer Kompaktheit dem Leser vors phantasierende Gesicht geworfen. Das tut dann richtig weh, Erinnerungsweh, da kann sich jeder selber seine Musterdesastersituationen über die angebotenen Strophen darüber legen und nichts anderes mehr im Sinn haben, als möglichst schnell das Blatt zu wenden, um sich selbst und seinem maßlosen Lebenstrichter zu entkommen. Aber diese Flucht auf den ersten Seiten des Bandes ist nur eine in die Traufe, es ist wohl eher zu vermuten, dass das Seitenblättern von der Geschwindigkeit zunehmen wird, denn Michel wirft genauso lakonisch hin wie er es versteht, vorhandenes lyrisches Material zu steigern, es wieder abzufangen, kurz zu glätten, um noch härter eins draufzugeben und nicht zuletzt sich über alles lustig machende Versformen dem ohnehin schon geplagten Leser zuzumuten.

 

All das werden nur wenige ertragen, aber was heißt das schon, wenn diese wenigen eine echte Fangemeinde bilden und wie bei Bernhard nur auf die nächsten Atrozitäten warten. Natürlich ist auch hier wieder Thema Nummer eins die unmögliche Beziehung zu anderen, die endlosen Umlaufbahnen des Sex und die mit der Zeit immer virtuoser werdenden Schreibübungen mit der Hand, diese erstaunlichen Vermächtnisse ans eigene Gemächt. Und dann, zum Ende hin, man glaubt es kaum – und ich habe mich also bei diesem Konzert in Hamburg in der „Fabrik“ nicht verhört – ein anderer Ton, zunächst noch tastend, dann auch visuell, in Form einer Sanduhr, wobei die Mitte des Gedichts der enge Durchlauf ist und genau auch an der Stelle der Durchbruch in eine andere Welt sich Weg und Platz bahnt, die Sonne, ja die Sonne geht auf, über dem Meer, nichts kann dem gleichen, „der Tag hat den Geschmack einer Geburt ohne Ende...“, Geschmacksgeschenk ohne Tauschzwang, ohne die Notwendigkeit, in die Ökonomie der Arbeit am anderen eintreten zu müssen, in diese unendliche, unabsehbare, so leicht zerstörbare und immer mit „gêne“ beladene, also mit dem Hirnschwellkörper belastete Aufbautätigkeit, von der eigentlich keiner so recht weiß, was da überhaupt entstehen soll.

 

Denn nichts ist so groß wie die Freigiebigkeit. Den perfekten Moment zu fühlen, bereit zu sein, für was auch immer. Bereit zu sein für die Dauer, für ein sonnenunabhängiges Sehen, für ein nebeneinander Herleben im besten Sinn des Wortes, für die Übernahme der Naturrhythmik, den Verlauf des Sandkorns in der Überuhr und die Zuversicht, dass sich irgendwann aus der herunterfahrenden Faust die elegante Geste entwickelt, mit der, kaum sichtbar für andere, der Naturzwang, seiner Rechte eingedenk, zugleich verabschiedet und in die Wüste geschickt wird.

 

Dieter Wenk (03.01)

 

Michel Houellebecq, Renaissance (Paris 1999); Wiedergeburt, Reinbek 2005 (rowohlt)