20. September 2005

Heidnische Spiele

 

Legt man die jüngst von Norbert Campagna vorgelegte streng analytische Definition der Prostitution als eines Tausches eines sexuellen gegen ein nichtsexuelles Gut dem Parzival Wolframs und überhaupt dem höfischen Roman zugrunde, dann müssten (fast) alle der dort vorgeführten Beziehungen von Rittern zu ihren Damen als prostitutionelle bestimmt werden, wird doch im Rahmen des Minnedienstes ein sexuelles (Liebeslohn) gegen ein nichtsexuelles (Ritterdienst) Gut getauscht; der einzige Unterschied zur heutigen Prostitution bestünde darin, dass das nichtsexuelle Gut nicht Geld ist, sondern alles mögliche wie zum Beispiel Kriegsdienst sein kann.

 

Einmal abgesehen von den im „Parzival“ gezeigten Verhältnissen auf Munsalwäsche, der Burg der Gralsritter und der zahlreichen Jungfrauen und Priesterinnen, laufen die sexuellen Beziehungen, wie sie im Artus-Kreis gängig sind, zweigleisig. Da gibt es die unter christlichen Auspizien stehende Konvenienzheirat, die also alles andere als eine Liebesheirat ist; parallel zu ihr laufen die „heidnischen“ Beziehungen, die durch das Spiel höfischer Werbung geregelt sind: Noch und gerade eine Orgeluse, die man heute als femme fatale bezeichnen würde, spielt auf diesem Register, auch wenn ihr Verhalten dem zu widersprechen scheint. Die obere Grenze des Raffinements ist nicht der willentliche Ausstieg, sondern der Tod. Die beiden Haupthelden des Romans, Gawan und Parzival, repräsentieren zwei Schicksale innerhalb der herrschenden sexuellen Ordnung. Während Gawan auf der Artus-Ebene bleibt, also von aventüre zu aventüre reitet, um ritterliche Ehre zu sammeln (und die Gunst der Frauen zu gewinnen), ist für Parzival der Artus-Kreis nur ein Durchgangsstadium, denn er ist zu höherem bestimmt, was ihn dazu verdonnert, dem ständigen Herumreiten abzuschwören und monogam und monosexuell zu leben.

 

Im Grunde rettet ihn das Desaster auf der Gralsburg, wo er es versäumt, Anfortas danach zu fragen, was ihm fehle, vor den Ausschweifungen durch Minne. Denn von jetzt an stehen nur noch zwei Dinge vor ihm: das Bild seiner eigenen Frau (großartig die Szene mit den drei Blutstropfen im Schnee) und die Wiedergewinnung des Grals, der er alles andere opfert. Mit der versäumten Frage hat Parzival also seine ganz eigene Ursünde nachgeholt, die ihn schuldig machte. Während für die anderen Ritter die Superlative nicht aufhören zu zirkulieren (immer wieder gibt es neue Frauen, die alle anderen in den Schatten stellen), irrt Parzival auf der Welt herum und kann auch nicht zur Ruhe kommen, aber aus einem anderen Grund: Denn erstens kann der Gral gar nicht gesucht werden, wenn man nicht dazu bestimmt ist ihn zu finden (das ist ja dann auch das Happyend, denn Parzival ist von Geburt an dazu bestimmt, Gralshüter zu werden), und zweitens schließen sich eheliches Glück und Gralssuche aus; das macht das zeitweilige Unglück des Ritters in der roten Rüstung aus.

 

Der „Parzival“ kann auch heute noch ganz wunderbar unterhalten, selbst in neuhochdeutscher Übersetzung. Sehr komisch zum Beispiel, wie Parzival, nachdem er seine Mutter verlassen hat, mit nur vier Signifikanten im Kopf eine ganze Welt aufbaut, der er damit natürlich Gewalt antut. Kinder, gerade weil und wenn sie gehorchen, können unglaublich brutal sein. Interessant auch die Umcodierungen des Heidnischen, wo etwa aus fließenden Tränen gleich eine Taufe mit abfällt. Man erfährt weiter, wie aus dem Erzählen von Liebesgeschichten gleich eine neue sich ergibt, und man begegnet lebenden Toten, die hier aber noch nicht als Zombies durch die Welt rasen bzw. kriechen (als den einzigen richtigen Zombie könnte man ausgerechnet Parzival bezeichnen: so heißt es nach dem zentralen échec auf Munsalwäsche: „ir lebt, und sît an saelden tôt“, denn als lebender Toter wird er noch zahllose Ritter vom Pferd stoßen, bis auch er erlöst wird und Anfortas erlösen kann). Auch Kafkas Türhüter taucht schon bei Wolfram auf. Nicht zuletzt dürfte dem Leser auffallen, dass Videospiele keine Erfindung des 20 Jahrhunderts sind; was Gawan auf Clinschors an Schrecknissen zu bestehen hat, würde jedem Videospiel Ehre machen.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Wolfram von Eschenbach, Parzival, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, 2 Bände, Übersetzung von Wolfgang Spiewok, Stuttgart 1981 (Reclam)