20. September 2005

Lob der Gegenwelten

 

Spätestens beim Untertitel dieser schmalen Hagiografie ist man wieder beim gewohnten thematischen Einzugsgebiet und zugleich der ästhetischen Hauptvorgabe des Franzosen: „Contre le monde, contre la vie“, denn wie anders als gegen die Welt und gegen das Leben eingestellt sollte ein Schriftsteller ein auch nur halbwegs ernstzunehmendes Werk zustande bringen. Diese notwendige, wenn auch noch nicht hinreichende Bedingung des künstlerischen Schaffens – auch als Hass- und/oder Schmerz-Apriori bekannt –, die man in Teilen der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur provozierenderweise nicht findet, räumt im Falle des amerikanischen Autors H.P. Lovecraft (1890-1937) ein ganzes Schreiben ein. Wem die Erde nicht passt, der muss halt abheben. In manchen Fällen ergibt das Sciencefiction. So auch hier.

 

Gleich zu Anfang teilt uns Houellebecq mit, dass es dem Neuengländer immer nur darum gegangen sei, imaginäre Welten zu erfinden. Wunschwelten, im positiven wie im negativen Sinne. Die Unzulänglichkeiten der realen Welt ins Extreme gewendet. Unschöne Erfahrungen oder Zustände einfach verschluckt. Wie diese Welten genau aussehen, wie in ihnen agiert wird, das zu erfahren reicht das schmale Buch des Franzosen leider nicht aus, was vielleicht weniger daran liegt, dass hier nicht zitiert wird – im Gegenteil gibt es ganze Seiten aus Erzählungen Lovecrafts – als schlicht daran, dass der Monograf eine Nähe zu seinem Gegenstand hat, die der unbedarfte Leser durch kein auch noch so langes Zitat einholen kann. Um diese Kalamität auszugleichen, gibt es das probate Mittel, den Autor, hier also Lovecraft, von Anfang an in eine Ausnahmeposition zu manövrieren, die es dem Leser gestattet, sich einzubilden, einem ganz großen Wurf auf der Spur zu sein, ohne dass er gleich damit beginnen muss, die Vorschusslorbeeren auf ihre Berechtigung hin zu prüfen, was in jedem Fall äußerst schwer sein dürfte. Dass darüber hinaus der Leser von Beginn an die Gewissheit hat, sich in Houellebecq dem kongenialen und wesensverwandten Monografen anvertrauen zu dürfen, wird in Sätzen klar gemacht, die den Amerikaner als virtuosen Bastler von „Elementarteilchen“ vorstellen. So liest man im ersten, „Ein anderes Universum“, überschriebenen Kapitel: „Wenige werden in dem Maße bis auf die Knochen vom absoluten Nichts jeder menschlichen Bestrebung erfüllt und durchdrungen gewesen sein. Das Universum ist nichts als ein flüchtiges Arrangement von Elementarteilchen.“ Und ein paar Sätze weiter, in Antizipation der eigenen schriftstellerischen Kampfzone: „Und die menschlichen Handlungen sind ebenso frei und losgelöst von Sinn wie die freien Bewegungen der Elementarteilchen.“

 

Dass diese sich gleichwohl zu ungemütlichen, abweisenden, schmerzhaften oder Hass gebierenden Formationen zusammenrotten können, weiß der Leser des so unscheinbar aussehenden Franzosen spätestens seit dessen gleichnamigem Roman. Das ästhetisch scheinbar frei flottierende Werk hat man noch keinem Autor wirklich abgenommen. Zu stark die Verwicklungen mit dem Außerästhetischen, die noch den biedermeierlichsten Autor zu immer glatteren Versionen treiben wie im Falle Stifters, der in seine urgroßväterliche Mappe, den Teufel austreibend, immer kindlichere Befindlichkeiten hineintreiben wollte. Was also Wunders, wenn in Lovecrafts Welten zwei Kräfte fehlen, ohne die wir uns unsere gegenwärtige Zeit überhaupt nicht (mehr) vorstellen können: Sex und Geld. Der Autor, der mit über 30 seinen ersten nachkindlichen Kuss empfing und fast nie anders als durch Ghostwriting eigenes Geld verdiente, baut ein Universum auf, aus dem der erotische Teil verbannt ist und in dem das reine, gewissermaßen metaphysisch abstrahierte Böse als schwarzes Loch haust. Kein Wunder auch, dass dieses Böse Namen erhält, dessen Unaussprechbarkeiten die nackte, vorsprachliche Wahrheit suggeriert.

 

Da gibt es zum Beispiel den großen Cthulhu, über den es im Moment seiner Offenbarung „auf unserer Erde“ – es ist zwischen 16 Uhr und 16 Uhr 15!! – nichts anderes zu sagen gibt als: „Ph’nglui mghlw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn!“ Weil man so etwas als guter Europäer weder lesen noch verstehen kann, ist es tröstlich, von Houellebecq zu erfahren, woher diese das Böse und den Hass repräsentierenden und das poetische Reich Lovecrafts bevölkernden Mächte kommen. Es ist – man denke an Céline – der Rassenhass, der hier den „poetischen Trancezustand“ gebiert. Im New York der Zwanziger Jahre war es, als der Amerikaner Himmel und Hölle kennen lernte. Aus dem anfänglichen blind-glücklichen Honeymoon erwuchs nach einer Reihe von Niederlagen aufgrund sozialer Impotenz eine Sicht auf die Welt, die in alt-manichäischer Manier nur noch „schmierige Mulatten“, „entsetzliche, gigantischen Schimpansen ähnelnde Neger“, „rattengesichtige Juden“ und ähnliche „monströse und nebulöse Skizzen des Pitecanthropus“ auf der einen Seite und gutseelenhafte Opfer auf der anderen Seite wahrnahm und konstruierte. Der Aufschreibmotor war perfekt. Die Flucht ins Masochistische nahezu selbstverständlich. In genauer Umkehrung psychotischer Verhältnisse wird bei Lovecraft das, auf das im Realen keine Antwort gegeben werden kann, symbolisch verarbeitet, wobei hier eben imaginäre Welten entstehen, die angesichts ihrer zwei zentralen Abwesenheiten genau auf das verweisen, was auch bei den meisten wirklichen Leuten eher mehr als weniger durchlöchert ist, Sex und Geld. Und Houellebecq macht nichts anderes, als diese beiden Mächte in seinen Büchern wieder auf die Erde zurückzuholen, als tragische Sexualfiktion.

 

Dieter Wenk (08.01)

 

Michel Houellebecq, H.P. Lovecraft. Contre le monde, contre la vie, Paris 1999 (1991, Éditions du Rocher) ; Gegen die Welt, gegen das Leben, Köln 2002 (DuMont Literatur und Kunst Verlag)