10. September 2005

Tafelrunde und Frontbericht

 

Die einzige Schnur, die uns mit der Welt, wie dunkel und klein sie auch sein mag, symbiotisch verbindet, trennt man uns ab beim Eintritt in die andere Welt. Seitdem laufen wir mit hungrigen Mäulern und enttäuschten Gesichtern herum, weil wir die Stelle nicht finden, wo der Nabel etwas anderes sein könnte als das blinde Loch des Albtraums. Und doch können wir nicht aufhören, immer wieder zu versuchen, Verbindungen herzustellen zu eben der Welt, die uns pausenlos sagt, dass es das nicht ist, was wir da treiben. Man schickt uns oder wir schicken uns immer wieder auf die Reise – gleich einem minnegesteuerten Ritter auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer, das immer wieder aufgeschoben wird, während die Dame zwischenzeitlich eine andere geworden oder schon gestorben ist.

 

Wenn es stimmt, wie Lacan behauptet, dass die höfische Liebe durch die „Unzugänglichkeit“, die „Privation“ der „Dame“ gekennzeichnet sei, der ein Ritter seine Dienste anbietet, und die dahinter stehende Ideologie um so besser funktioniert, je weniger die Beteiligten miteinander zu tun haben, dann ist uns in David, dem Verfasser der 14 Briefe, ein neuer Ritter erstanden, dem in seiner Sonja, die eben nicht die seine ist, die Unmöglichkeit der Liebe entgegen zu stehen scheint. Ein Knappe ist auch im Spiel, Paul, ein Freund Davids, der die Aufgabe übernimmt, die Adresse Sonjas herauszufinden und somit die Zustellmöglichkeit der Briefe zu sichern. Alles andere, was in diesen Briefen zur Sprache kommt, ist jedoch strikt zeitgemäß, mehr noch: will die Zeit anschreiben. In ihnen liest sich eine Art Ätiologie postmoderner Malaise, deren Dämmer der Schreiber durch etwas scheinbar so Altmodisches wie Aufklärung aufzuhellen gedenkt. Die Klammer, die die Analyse und die Liebeserklärung zusammenhält, ist das ausgesprochene Thema des Buchs: Drastik und Deutlichkeit. Ob damit der Code des Buchs selbst angegeben ist, ist eine andere Frage, die wohl eher zu verneinen ist.

 

Was interessiert David an Sonja? Warum diese Briefe an eine Frau, die der Schreiber nie wirklich kennen gelernt und die er jahrelang nicht mehr gesehen hat? Eine Schulbekanntschaft. Sonja ist anders als alle anderen Mädchen. Höflich, zurückhaltend, bedeckt (in jeder Hinsicht), korrekt, also: unheimlich. David versucht, Sonja zu knacken, weil er sie nicht zu „sehen“ bekommt. Sie ist ein Geist, der die bürgerlichen Umgangsformen perfekt beherrscht. Aber was steckt hinter dem Geist? Ahnungslos wie Parzival, der es versäumt, eine eben nicht „überflüssige“ Frage zu stellen, verbockt David eine Begegnung, die für beide traumatisch endet. Später erfährt er die Wahrheit über Sonja. Etwas, was eine Art Grundsteinlegung zu dem sein wird, was der Schreiber später das Nachdenken über „Ausnahmemomente in Leben und Kunst“ nennen wird, denn als nichts anderes stellt sich Drastik dar: auf der einen Seite kulturindustrielle Produkte wie Pornografie, Horrorfilm, Black-Metal, Literatur vom Schlag eines Bret Easton Ellis, auf der anderen Seite die nackte Feststellung: ’s’gibt Drastik, also die Tatsache, dass das, was man für bloß fiktiven Horror hält, wirklich passiert, Tag für Tag.

 

Nachdem David von der traumatischen Verletzung Sonjas erfahren hat, kann er später in einem Brief darauf verweisen, dass das, was er zu sagen hat, keine Zumutung ist, weil diese Zumutung längst den innersten Kern seiner so fernen Freundin ausmacht: „Drastische Erlebnisse in der Wirklichkeit“, so belehrt David im ,Brief über die absichtliche Zerstörung von Zusammenhängen’ seine vermeintliche Adressatin, „haben mit denen aus Kunst, halten wir fest, eins gemeinsam: Sie verbessern die Aufmerksamkeit, es geht plötzlich viel mehr hinein in den Kopf, ins Herz, in die Nerven, ins Blut, das durch den Körper rauscht. Einen Moment lang währt das, aber der streckt sich, will Ewigkeit wie alle Lust.“ Diese Briefe handeln also von so gefährlichen Dingen wie einschneidenden Erlebnissen, direkt am eigenen Körper, oder medial gefiltert. Sonja ist das beste Beispiel, dass man vor Drastik nicht fliehen kann. Früher oder später holt sie einen ein, und in einer Sekunde kann man alles über sie erfahren.

 

David will aber mehr wissen. Warum führt Drastik als Kunst ein Schattenleben? Warum ist sie nicht Pop, sondern nach wie vor Subkultur? Und vor allem: Wenn sie in der Lage ist, die Wahrnehmung zu fördern, ist sie gar eine Stiefschwester der Aufklärung? Ein „illegitimes“ Kind der Vernunft selbst? Ist es mehr als Zufall, dass zur Stunde sowohl Aufklärung als auch Drastik keine gute Presse haben? Am Ende, nach der Lektüre der Briefe, stellt sich natürlich die Frage, ob die Dinge, die hier ins Spiel gebracht, de- und rekontextualisiert wurden, ein so kompaktes Bündel formen wie die Briefe, die schließlich auch abgeschickt werden können, da der Knappe Paul die Spur Sonjas gefunden hat. Genau wie sie, Sonja, haben auch wir (Sie) die Wahl, ob wir (sie, Sie) die Botschaft in umgekehrter Form zurückgeben und uns auf einen Tausch einlassen, der nur unzureichend damit beschrieben ist, dass er kapitalisierbar ist. Die Schmuddelkinder sind sowieso da. Bis bald, vielleicht im Videoladen.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Dietmar Dath, Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt am Main 2005 (Suhrkamp), 216 Seiten

 

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