Der Spinnentest
Ein Anti-Lavater-Film. Lass mich dein Gesicht sehen, und ich sage dir, wer du bist. Funktioniert hier nicht. Jedenfalls nicht bei der Hauptfigur, dem Minus Man, einem jungen Tramp, der ein bisschen mit seinem Pick-up durch die Staaten fährt. Dem Minus Man sieht man nichts an, Schwundstufe der Expressivität. Dabei ist er nicht debil, sieht sogar ganz hübsch aus. Was er auch weiß. Und womit er spielt. Er hält sich zurück, lässt den anderen die Initiative, die bereits ein Reflex auf seinen Köder ist. Aura des Nichts. Wunderbar, sich da hineinfallen zu lassen. Er wirkt anständig. Prima, man kann sofort sein Herz bei ihm ausschütten. Guter Kumpel, von Anfang an. Fast möchte man ihm helfen, weil er niemanden zu kennen scheint und er bestimmt nicht anstrengt.
So weit ein bisschen die Außenfläche, die harmlose Haut, hinter der sich nichts anderes befindet, als die Gewohnheit, fremde Menschen zunächst für sich zu gewinnen, ihr Vertrauen, um dann die ewig gleiche Nummer abzuspielen. Er, der selbst nicht trinkt, hat ein kleines Fläschchen mit leckerem Amaretto, das er meistens in seinem Auto hortet. Darin ist das Gift eines seltenen Pilzes, denn unser Minusheld ist ein Freund der Vegetation und der Insekten. Seine Lieblingsgeschichte hält er keinem seiner kurzen Bekanntschaften vor, und sie ist wirklich furchtbar lustig. Eines Tages, so erzählt er, kroch eine Spinne in sein Ohr. Pause. Vielleicht kommt die Frage, was dann passierte. Nun, fährt er dann fort, sie kroch wieder raus. Keiner da. Holla. Psychologie? Nein. Keine Psychologie. Jedenfalls nicht in diesem Film, auch nur scheinbar auf den Nebenschauplätzen, zum Beispiel der einen Familie, wo er sich einquartiert und er bald merkt, dass das Leben dort eine einzige Katastrophe ist. Einfach typische Familienkatastrophik.
Zwei Prinzipien begleiten seine Morde: Niemals einen Bekannten umbringen. Niemals in der Stadt, wo er sich gerade selbst aufhält. Einmal wird es ein wenig knifflig, weil er gegen beide Prinzipien zugleich verstoßen hat, aber das Glück ist auf seiner Seite und, wie man das ja jetzt schon kennt, gräbt zusätzlich die Polizei auf dem falschen Feld und fährt in die falsche Richtung. Für den Minus Man haben dagegen alle Richtungen den gleichen Wert. Ob links, ob rechts, Opfer gibt es überall, sein dezenter Charme fängt überall. Und seine Morde sind für die Welt so sinnlos, weil sie für ihn mit einem Zwang verbunden sind, den er niemandem erklären kann, bis ein oberschlauer Psychiater daherkäme und ihm auf den Kopf zusagte, was ihm in der Kindheit gefehlt hat, womit allerdings der Zuschauer glücklicherweise verschont bleibt. Das irgendwie Sympathische bei seinem Vorgehen besteht ja darin, dass seine Opfer absolut nichts merken, was mit ihnen passiert. Ein gnädiger Tod. Für manche eine Erlösung. Für manche natürlich nicht.
Und der Minus Man selbst wirkt wie ein verhängnisvoller Ahasverus, unerlösbar, auch nicht von den lieben Blicken verliebter Mädchen, die er nicht an sich heranlässt, ohne ein bisschen gewalttätig zu werden. Er wäre bestimmt ein guter Familienvater, jedenfalls von außen betrachtet. Aber wie gesagt, der Schein trügt. Immer. Furchtbar, oder?
Dieter Wenk (02.01)
Hampton Fancher, The Minus Man, USA 1999