5. September 2005

Eine Geschichte von Matthias Aumüller

 

 

DER AUFSATZ

 

Ralf schwitzte. Es war unerträglich warm, und er mußte zusammen mit dreißig anderen einen Aufsatz schreiben. Die Fenster waren geschlossen, weil Frau Gleiser keinen Zug vertrug. Dabei war es draußen vollkommen windstill, die Luft zitterte nur vor Hitze, und das schon am Vormittag. Unter der Tafel saß die Lehrerin in ihrer hochgeschlossenen grünlichen Bluse und blätterte mit ihren Händen, die die Schüler „Möbelpackerpranken“ nannten, weil sie so unförmig waren, in einer Zeitschrift. Ralf stellte sich vor, wie er mit der Bahn durch eine Sommerlandschaft fuhr und, am geöffneten Fenster stehend, sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen ließ. Das tat gut. Plötzlich hörte er eine brüchige Stimme aus dem Innern des Waggons. Sie forderte ihn auf, das Fenster zu schließen. Es ziehe. Er schob es hoch und drehte sich um. Die Phantasie sprang in eine Erinnerung um. Plötzlich fand er sich in einem engen Abteil wieder. Er saß am Fenster und ihm gegenüber eine alte Frau mit goldener Brille und schwerer Perlenkette. Sie löste ein Kreuzworträtsel. Es war nicht warm, aber sehr stickig. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Dafür gab es eine Klimaanlage, die unauffällig verbrauchte Luft in das Abteil leitete. Hinter der leicht getönten Scheibe glitt eine fahle Landschaft vorüber. Durch das Fenster war kaum zu erkennen, daß draußen das frische Grün in der Sonne leuchtete.

Ralf fuhr von Berlin nach Hamburg. Ohne Zwischenaufenthalt. Gerade war der Schaffner im Abteil gewesen und hatte die Fahrkarten kontrolliert. Die alte Dame, die in Spandau zugestiegen war, legte ihr Heft auf den Nachbarsitz und erhob sich ächzend. Unsicheren Schritts begab sie sich zur Schiebetür und verließ das Abteil. Kurz darauf kam sie jedoch schon wieder.

„Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich die Vorhänge zuziehe?“

Ralf schüttelte überrascht den Kopf.

„Wissen Sie“, fuhr sie mit ihrer brüchigen Stimme fort, „wenn auf dem Gang ständig die Leute hin und her laufen, kann ich mich nicht konzentrieren.“

Ralf antwortete mit einem zustimmenden Lächeln, und die alte Dame nahm ihr Heft wieder zur Hand. Ralf richtete seinen Blick aus dem Fenster, betrachtete aber aus den Augenwinkeln die alte Frau. Sie hatte die Brille nach oben geschoben und den Kopf leicht nach hinten gebeugt, um besser sehen zu können. Die Oberlippe war hochgezogen und entblößte die obere künstliche Zahnreihe. Irgendwie erinnerte sie ihn an Frau Gleiser. Dasselbe dauergewellte Haar, das wie eine Perücke aussah. Zuletzt hatten sie das Thema „Pornographie im Alltag“ besprochen. Ihre Haut war runzlig, glänzte jedoch eigentümlich. Dann ließ sie das Heft auf den Schoß sinken. Zugleich neigte sich auch der Kopf, und die Brille rutschte auf dem Nasenbein nach vorn. So saß sie kurze Zeit, und dann blitzten plötzlich ihre Augen über den Brillenrand hinweg. Sie sah Ralf scharf an, der sich ertappt fühlte und sich wieder der vorüberziehenden Landschaft zuwandte. Er dachte an den Aufsatz, den er morgen im Deutschunterricht würde schreiben müssen. Das haßte er. Frau Gleiser würde ein Thema stellen, und sie mußten sich dazu etwas ausdenken. Manchmal gab sie auch nur den ersten Satz vor. Wieder blinzelte er kurz zu der Frau hinüber. Sie schien es zu merken, und er sah wieder aus dem Fenster hinaus. Er sah aber auch, wie sie ihren beigefarbenen Rock nach vorne zog, sich leicht vom Sitz erhob und den Rock von unten glattstrich. Unter ihren Strumpfhosen sah Ralf an ihren Unterschenkeln lauter plattgedrückte dunkle Haare. Sein Blick fuhr unwillkürlich nach oben über die grünliche Buntfaltenbluse mit der Perlenkette, die sich um den dicklichen Hals legte, bis zu ihrem Gesicht. Sie nahm gerade ihre Brille ab und fixierte ihn scharf. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, griff sie nach ihrer Handtasche, legte die Brille hinein und holte ein Paar Handschellen heraus. Sie stürzte sich auf ihn, faßte ihn mit einem Arm um den Kopf und drückte ihm mit der Hand, einer ungemein kräftigen, harten Hand, den Mund zu. Sie hob ihn hoch, drehte ihn, so daß er mit den Knien auf den Sessel kam, und riß mit der freien Hand seinen Arm hoch, den sie dann an die Gepäckablage kettete. Sie griff nach etwas und steckte es ihm in den Mund. Ralf kam zu sich und wollte es ausspucken, aber schon klebte sie ihm ein dickes Pflaster über den Mund und kettete auch den anderen Arm an. Er kniete nun auf seinem Sessel mit den Augen zur Abteilwand und sah sich im dort angebrachten Spiegel ins Gesicht. Er versuchte vergeblich zu schreien und rüttelte mit den Armen. Aber je mehr er den Mund verzog, desto mehr zwickte das Pflaster in seine Haut, und je kräftiger er die Arme bewegte, desto stärker schnitten ihm die Stahlfesseln ins Fleisch. Er spürte eine Hand auf seinem Haar. Sie streichelte ihn. Wie um ihn zu beruhigen. Und er verstand, daß es sinnlos war, sich zu wehren. Er versuchte, an seinem Gesicht vorbeizublicken und zu sehen, was hinter ihm geschah. Aber die Frau versteckte sich hinter seinem Spiegelbild, und er sah nur ihre Umrisse rechts und links hinter sich. Jetzt legten sich ihre Arme um seine Hüften. Sie fing an, sein Geschlecht zu streicheln, und öffnete kurz darauf seine Hose. Wehrlos mußt er erleben, wie sie ihm die Hosen herunterzog. Er wollte brüllen, doch es kam nur ein stumpfer Laut heraus. Jetzt spürte er, wie eine Hand an seinem nackten Geschlecht vorsichtig entlangfuhr und gleichzeitig eine zweite Hand sein Gesicht streichelte und sich langsam bis zu seiner Nase vorarbeitete, die dann mit zwei Fingern sanft zusammengedrückt wurde. Er fing an zu strampeln, da wurde er schmerzhaft an der Nase gerissen, und er hörte auf. Die zweite Hand ließ von seinem Gesicht ab, während die andere weiter sein Geschlechtsteil koste. Kurz darauf fühlte er etwas an seinem Hintern. Sie schmierte ihm etwas Kaltes in den After. Sie führte einen Finger ein und massierte ihn von innen. Dann nahm sie ihn heraus und versuchte statt dessen, etwas Größeres hineinzustecken. Er wollte die Hüften ruckartig wegziehen, aber sie faßte ihn mit beiden Händen, diesen starken Händen, fest an den Beckenknochen, und er konnte sich kaum bewegen. Langsam schob sie es vorwärts, etwas, das zugleich hart und weich war, zog es ein wenig zurück und wieder ein wenig weiter hinein. Sein Magen zog sich zusammen, er wollte sich übergeben, aber aus Angst zu ersticken, atmete er ein paar Mal tief durch die Nase ein und aus, und er merkte, wie er sich unten entspannte und sein Ausgang sich weitete und das Ding tiefer und tiefer eindrang und sich bald etwas schneller gleichmäßig vor und zurück bewegte. Er blickte an seinem Spiegelbild vorbei, konnte aber noch immer nichts von ihr sehen. Er drehte den Kopf nach hinten. Ihr heißer Atem drang ihm direkt in die Nase, und angewidert drehte er sein Gesicht zurück. Wieder probierte er, die Hüften zur Seite zu ziehen, aber ihr Griff war unnachgiebig fest, und es hatte nur die Folge, daß sie ihn jetzt heftiger zu stoßen anfing und nackte Haut rhythmisch gegen sein Gesäß prallte, immer stärker, immer schneller, aber es tat nicht weh. Da spürte er ein Zucken und eine warme Flüssigkeit aus seiner Öffnung rinnen. Kurze Zeit später wurde er in den Nacken geküßt und abgeputzt. Die Hosen wurden hochgezogen, und er hörte, wie sie sich hinter ihm hinsetzte.

Der Pausengong unterbrach seine Gedanken. Frau Gleiser ging durch die gelichteten Reihen und sammelte die restlichen Arbeiten ein.

„Ralf, auch für Dich ist es jetzt Zeit. Gib mir bitte Dein Heft!“

„Aber ich bin doch noch gar nicht fertig.“

„Es gehört auch zu der Aufgabe, mit der Zeit hauszuhalten“, sagte Frau Gleiser in ihrer unerträglichen Art und zog ihm das Heft unter dem Stift weg.

So etwas könnte herauskommen, wenn er morgen einen Aufsatz nach einem Thema „Meine letzte Bahnreise“ schreiben würde. Aufgabenstellungen dieser Art paßten zu Frau Gleiser. Er sah sie vor sich, wie sie sein Heft auf den Stapel legte, den sie in ihrer Möbelpackerpranke hielt. Vor ihm die alte Dame legte gerade ebenfalls ihr Heft mit den Kreuzworträtseln auf einen Stapel anderer solcher Hefte, den sie aus ihrer Reisetasche hervorgezogen hatte. Er kniete immer noch an die Gepäckablage gefesselt auf dem Sessel und beobachtete mit nach hinten gedrehtem Hals, wie die alte Frau weiter in ihrer Reisetasche nestelte, die sie vor sich auf ihren Knien balancierte. Sie versenkte den Stapel mit Heften und stellte die Tasche zur Seite. Dann griff sie nach ihrer Handtasche und holte ein Paar Schlüssel heraus.

Einen richtigen Skandal würde es geben, wenn sie die Klassenarbeiten zurückgibt. Die Eltern würden benachrichtigt, die Sittenpolizei verständigt. Das Elternhaus als Mitglied eines Pornorings verdächtigt. Oder aber sie würde es aussitzen, ihm eine schlechte Note geben mit der Begründung, er habe das Thema verfehlt.

Sie erreichten Hamburg. Draußen sah er den Bahnhof Bergedorf vorüberhuschen. Seine linke Hand wurde befreit und der Arm nach oben gedreht, so daß er sich mit dem ganzen Körper umwenden mußte und sich dabei von den Knien auf die Füße stellte. Die alte Frau stand direkt vor ihm, ein Bein auf seinem Sessel, das andere auf ihrem Sitz. Sie fesselte den befreiten Arm mit einem robusten Band an den anderen und beide zusammen an die Gepäckablage. Er stand jetzt vornübergebeugt auf seinem Sitz, mit beiden Armen nach hinten und oben gestreckt wie ein Sträfling aus einem vergangenen Jahrhundert. Schließlich nahm sie auch die anderen Handschellen ab, hob zum Abschied mit spitzen Fingern sein Kinn und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. Die Brille wieder auf der Nase verließ sie das Abteil. Ralf konnte sich nicht bewegen. Er mußte aufpassen, daß er nicht vom Sitz fiel, wenn er sich nicht die Arme ausrenken wollte. Er hörte, wie sich die Leute hinter dem Vorhang dem Ausgang entgegenreihten und, nachdem der Zug in den Bahnhof eingefahren war, langsam aus dem Gang verschwanden. Der Bahnsteig war auf der anderen Seite. Er trat gegen die Abteilwand und versuchte zu brüllen, aber der Knebel erstickte seinen Schrei. Dann fuhr der Zug wieder an, und er beruhigte sich. In Altona war Endstation. Dort wurden die Abteile kontrolliert, und man würde ihn finden. Ruhiger geworden, fiel ihm auf, daß die Fesseln sehr locker saßen. Hastig zog er daran und spürte, wie er mehr und mehr Spiel bekam. Kurz nach dem Bahnhof Dammtor gelang es ihm, sich von den Fesseln zu befreien, und sofort stürzte er aus dem Abteil und wollte schon nach dem Schaffner rufen, als er sich besann und sich plötzlich furchtbar lächerlich vorkam. Er kehrte zurück, nahm seinen Rucksack und die Fesseln und machte sich erneut auf die Suche nach dem Schaffner. Passagiere kamen ihm entgegen und strebten zum Anfang des Zuges, und erst ganz am Ende fand er eine Schaffnerin, die ihren Zug abschritt. Verwirrt hielt er ihr das Band vor und versuchte zu sprechen, aber was ihm widerfahren war, kam ihm selbst gerade so abstrus vor, daß er kein Wort herausbekam. Die Schaffnerin sah ihn erstaunt an, da bremste der Zug langsam und kam nach einem Moment zum Stehen. Die Schaffnerin ließ ihn stehen und ging an ihm vorbei, trat aus dem Waggon, und er hörte, wie die Außentür sich offnete. Langsam schritt er dem Ausgang entgegen und begab sich durch die Tür. Er fand sich im Flur vor dem Klassenzimmer wieder. Er war wohl der letzte gewesen. Neben ihm stand Frau Gleiser mit einem Paar Schlüssel in der Hand und wartete, bis er aus der Tür getreten war. Dann verschloß sie das Klassenzimmer und sagte:

„Ralf, wenn Du Deine Note verbessern willst, dann komm doch heute nachmittag bei mir vorbei.“

 

(13. August 2004)