5. September 2005

Stoff sucht Form

 

Der Untertitel dieses Films heißt: Unvollständige Erzählungen von unterschiedlichen Reisen. Dennoch findet eine gewisse Verknotung der Fragmente statt. Geografisch laufen die szenischen Stückel in Paris zusammen, wo die farbliche Aufsaugfähigkeit der Trikolore einem Test unterzogen wird. Gleichzeitig geht es um Resonanzen, um das Ankommen von Schwingungen, das genau dann zu einem Problem werden kann, wenn etwa Leute ganz einfach taub sind. Was die Erschaffung von Nebenschauplätzen zur Folge hat. So sieht der Zuschauer gleich am Anfang in einem geschlossenen Raum eine Gruppe von Kindern, die ein Ratespiel spielen. Ein Kind steht vorne und stellt in einer kurzen Pantomime etwas vor, was die anderen erraten müssen. Alles geht leise vor sich, alle Teilnehmer sind taubstumm. Das Kind vorne fühlt sich von keinem anderen erraten, der einzige Code, mittels dessen es sich mitteilen kann, ist das Schütteln des Kopfs; es bleibt mit seiner kleinen Szene allein.

 

Und doch hat sich in dieser einleitenden Sequenz – halb spielerisch, halb existenziell – eine Grundnote bekannt gegeben, für die der Film im weiteren Verlauf eine Adresse sucht. Es geht um Angst und die Unmöglichkeit ihrer Codierung. Die Frau aus Rumänien, die in den Straßen von Paris bettelt, signalisiert Armut, aber ihr Gesicht ist auf den Boden gerichtet. Der junge Senegalese, der einen gleichaltrigen weißen Franzosen zur Rede stellt, da er die Bettlerin wie einen Abfalleimer benutzt hat, repräsentiert kämpferische politische Korrektheit, die ihm etwas später auf der Polizeistation nichts nützen wird. Vielleicht die Schlüsselszene des Films: Die scheinbare Eindeutigkeit der Konfliktlage, die der junge Afrikaner durch die Artikulation seines Problems mit der Handlungsweise des Weißen jedoch allererst begründet, wird spätestens mit dem Auftauchen der Polizisten zersprengt und im Anschluss regelrecht abgeführt. Denn da geht es erst einmal um Ausweiskontrolle, was Dinge nach sich zieht, die der junge Schwarze so nicht gewollt hätte, nämlich die Abschiebung der Rumänin und seine eigene Demütigung auf der Polizeiwache.

 

Der Code des Gesetzes ist also ziemlich dumm und idiotisch, weil er sich nicht einfühlen, nichts erraten kann. Was ihm zugetragen wird, stellt er auf den Kopf, damit er es mitnehmen kann. Diese Sprachmauer, die es nicht zulässt, dass die Angst einen Kassiber durch sie hindurchschiebt, inszeniert der Film dann noch einmal in einer fiktiven Szene, in der die französische Schauspielerin (gespielt von Binoche) eine Frau darstellt, die sich in einem Raum befindet, aus dem es kein Entkommen gibt und in dem sie innerhalb weniger Minuten sterben wird, wie ihr ihr Peiniger über eine in dem Raum installierte Kamera mitteilt. Wie der perfide Peeping Tom will der unbekannte Sadist einen authentischen Ausdruck des Grauens erhaschen, den Moment des Übergangs, nicht so sehr den vom Leben zum Sterben, sondern den davor, den Moment des Erkennens, dass das Spiel aus ist, im wahrsten Sinn. Die Masken sollen fallen, der Chabrol’sche Imperativ verlangt einen echten Ausdruck im Angesicht des Todes. Und was macht die Frau? Tja, sie erteilt ihrem Peiniger eine linguistische Lektion, Code unbekannt, oder: Es gibt in diesem Spiel keinen Gewinner, nur Positionen, die sich links und rechts der Mauer aufteilen.

 

Dieter Wenk (02.01)

 

Michael Haneke, Code unbekannt (code inconnu), F 2000; Juliette Binoche, J. Bierbichler u.a.