4. September 2005

Ausnahmesituation

 

Meine Lieblingsszene, wenn man davon überhaupt sprechen kann, ist die mit dem Architekten. Der Kopf des Architekten. Der mit den Wölfinnen spielt. Die letztlich nicht mit sich spielen lassen. Obwohl sie beeindruckt sind. Der Typ bleibt einfach cool. Schwitzt noch nicht mal. Darf ich dir Feuer geben? Das nicht ganz, aber möglich wäre es. Er hat den Vorteil, dass sie ihm Zeit lassen. Zeit, die andere freilich nur dazu gebrauchen, also gerade nicht nutzen könnten, völlig durchzudrehen in ihrer Angst. Er jedoch weiß zwar, mit wem er es zu tun hat, aber irgendwie bringt er es zustande, dass sich in seinem Kopf die Palette aufbaut. Dass gewisse Zwänge vielleicht auch mal aufhören können. Dass diese völlig durchgeknallten Frauen vielleicht doch auch ihren kleinen Schwachpunkt haben, von dem aus sie kurierbar sind. Diese Lässigkeit im Umgang mit dem vermutlich bevorstehenden eigenen Tod beeindruckt Nadine und Manu, vor allem Nadine, die erst einmal nicht so harte, die scheinbar leichter umpolbare, aber dabei handelt es sich um Temperamentunterschiede innerhalb einer Zone, die eindeutig und ohne wenn und aber zur killing zone gehören.

 

Wie auch immer, der Leser oder auch der Zuschauer, denn im Film kommt das genauso rüber, fragt sich, wie diese Haltung des Architekten möglich ist, ob sie sich einer Kulturtechnik verdankt, der Tatsache, dass er einfach schon mit sehr viel Leuten Umgang hatte und er insofern nicht mehr wirklich überrascht werden kann, denn vielleicht hat er sich eine Begegnung mit den beiden natural born killers vorgestellt, wie unwahrscheinlich sie auch sein mochte, und vielleicht lag das überraschende Moment mehr in dem, wie anders die beiden Mädels dann doch waren, und nicht darin, dass sie überhaupt auftauchten. Übrigens weiß der Leser nicht wirklich, was in den Köpfen abgeht, da die Szenerie strikt von außen beschrieben wird, Möglichkeiten werden angeboten, Wahrscheinlichkeiten, aber man kann nie sicher sein, ob die Vermutung des Erzählers einer Tatsache entspricht oder nicht. Es gibt hier auch keinen Sex zwischen Opfer und FrauFrau. Vielleicht wäre der nicht gut für das Tötungsgetriebe, vielleicht würde irgendwas anders laufen und die Selbstverständlichkeit der Freigabe wäre verunmöglicht oder zumindest erschwert. Wie auch immer, das Buch verliert sich nicht in psychologischen Finessen, deutet aber an dieser Stelle an, dass genau hier ein Bereich existiert, wo alles möglich ist. Wo das Spiel, das von einer Position seinen Ausgang nahm, eventuell auf die anderen übergreifen könnte, um sie zu Spielpartnern zu machen, die damit aber ihr eigenes Spiel aufgeben müssten. Was sie natürlich nicht wollen.

 

Der verrückte Charakter dieser Extremsituation zwischen Spiel und blutigem Ernst scheint mir in dem Angebot einer der beiden Frauen zu liegen, die dem Architekten das Leben schenken wollen, wenn er mit den Diamanten rausrückt, die nicht rauszurücken für ihn natürlich nur tödlich enden kann. Aber er erhält dazu noch das als Überlegung: Wenn du das machst, werden wir dich nicht umbringen, du hast mein Ehrenwort, und es liegt an dir, dir einen Reim darauf zu machen, wie viel das wert ist. Hündin beißt Wolf.

 

Dieter Wenk (02.01)

 

Virginie Despentes, Wölfe fangen (Reinbek 2000; Baise-moi, Paris 1996)