1. September 2005

Literarische Vorlagen zwischen MacGuffin und Vorschrift

 

Man muss sich schon wundern, wenn es in der Filmwissenschaft nötig zu sein scheint, dass Bücher geschrieben werden, um zu zeigen, dass nicht alles, was ein Regisseur macht, ausschließlich ihm zuzuschreiben ist. Eine solche Verkennung der Lage kennt man eigentlich nur aus dem postmodernen Regietheater, in dem die Ausschüttung eines überkommenen Theaterautors mit der Inthronisierung eines ganz anderen Deppen vollzogen wird. Diese Studie kann mit Erfolg zeigen, dass nicht überall, wo Alfred Hitchcock draufsteht, nur und ausschließlich Alfred Hitchcock drinsteckt. Die „Deglorifizierung“, die zwangsweise damit einhergeht – einmal muss ja Schluss sein mit den verdammten Genies –, arbeitet sich weniger an den filmisch bereit stehenden Genres ab (Detektiv-, Kriminal-, Horrorfilm etc.) – nicht jeder Regisseur darf sich schließlich Diskursbegründer nennen –, sondern bemüht dazu die literarischen Vorlagen, auf die sich Hitchcock im gegebenen Fall bezog.

 

Anhand von zehn Exempeln (The Lodger, The 39 Steps, Rebecca, Strangers on a train, Rear window, Vertigo, Psycho, The Birds, Marnie und Frenzy, also ein zeitlich überzeugender Querschnitt aus Hitchcocks Filmschaffen zwischen 1926 und 1972) überprüft die Autorin, inwiefern die literarischen Vorlagen eher eine lockere Inspiration oder sogar so etwas wie eine Vor-Schrift abgaben, die eine literarische „Handschrift“ des Regisseurs mehr oder weniger unterdrückte. Eingedenk des medialen Unterschieds zwischen Film und Text (dessen Ernstnehmen viele unsinnige Diskussionen über Literaturverfilmungen überflüssig machen würde) überprüft Vibeke Reuter anhand der gängigen strukturalistischen Parameter (Zeitstruktur, Erzählstruktur, Verteilung des Wissens, Sprache, Raum, Figuren und deren Konstellation, Unbestimmtheitsstellen) die Bezugnahmen Hitchcocks auf seine ja in keinem Fall unter den Tisch gekehrten Vorlagen. Die Übernahmen durch Hitchcock sind dabei so zahlreich, dass sie hier auch nicht annähernd aufgeführt werden können. Was aber die Autorin dabei keineswegs suggerieren möchte: Hitchcock kann nur dann hinreichend verstanden werden, wenn man seine Vorlagen kennt. Das hieße die Autonomie des filmischen Werks unterhöhlen und es zum bloßen Erfüllungsgehilfen von Literatur in einem anderen (zumal minderwertigeren) Medium machen. Solchen Sekundierungsansinnungen hat glücklicherweise Hitchcock selbst vorgebaut, indem er analytische Geister oder einfach Liebhaber seiner Filme das finden lässt, was eben dazu berechtigt, von einer „Handschrift“ zu sprechen, auch wenn diese hier visueller Natur ist, also im „showing“ zu finden ist.

 

Bereits der Stummfilm „The Lodger“ vereint fast alle rekurrenten Thematiken: „die Verdächtigung und Verfolgung eines Unschuldigen, eine Aufweichung des Schuldbegriffs und Ambivalenz, ein Schuldgefühl, das dem Verlangen nach Liebe im Wege steht, ein scheinbar geordnetes Leben, in das Chaos hineinbricht, abnormes Verhalten in Form eines psychopathischen Frauenmörders, die Konstruktion eines heterosexuellen Paares, das Pygmalion-Motiv, Voyeurismus und Sensationalismus, die negative Darstellung der Polizei sowie die Verbindung zwischen Sexualität und Gewalt.“

 

Vibeke Reuter bringt also nicht nur die literarischen Vorlagen (wieder) ins Spiel, sondern zeigt in einlässlichen, mitunter etwas mühsam zu lesenden Analysen (man kennt schlicht und einfach die zugrunde liegenden Texte nicht, was das ganze zu einer etwas trockenen Übung macht) die Übernahmen, aber auch die signifikanten Abweichungen durch den Regisseur, die über den medialen Unterschied oder auch der Zensur geschuldete Sachzwänge hinausgehen. Eine ganz andere Frage ist die, ob durch den Vergleich ein neues Hitchcock-Bild entsteht. Diese Frage ist wohl eher zu verneinen, denn nur wenige Zuschauer schauen sich wohl Filme des Master of suspense an in dem (falschen) Bewusstsein, dass „alles“, was sie sehen, Ausgeburten eines genialen Regisseurs sind. Und selbst wenn, könnte das Bild, das diese Zuschauer von Hitchcock haben, genau das gleiche sein, das Reuter als Hitchcocks „Handschrift“ analysiert. Aber dieses Spiel gehört eben auch zu den vereinnehmenden Mechanismen des Autorenfilms; und doch bleibt die Signatur des Namens natürlich auch nach der Zerlegung als solche sichtbar.

 

Was ein wenig stört bei der Arbeit ist der ungetrübte Gebrauch von Vokabeln wie „Identifikation“ oder „Universalisierung“. Nur weil Hitchcock gewisse Rahmen von den literarischen Vorlagen nicht übernimmt (z.B., dass Krieg herrscht – aber das weiß der Zuschauer in der Regel ja gar nicht, weil er die Vorlage nicht kennt), überhöht Hitchcock die so gereinigte Handlung nicht gleich in Richtung Universalisierung, die zudem eine bessere Identifikation mit den Figuren erlaube. Hier macht sich das strukturalistische Korsett unliebsam bemerkbar, und aus der herauskristallisierten Vor-Schrift der Vorlagen wird plötzlich und ungefragt eine cineastische Vorher-Sehung, die dem individuellen Betrachterauge kaum noch Platz lässt. Die Autorin lässt sich vor allem zum Schluss hin leider von einer „menschelnden“ Betrachtungsweise vereinnahmen, die die Welt kleiner macht, als sie durchaus sein kann.

 

Dieter Wenk (08.05)

 

Vibeke Reuter, Alfred Hitchcocks Handschrift. Vom literarischen zum filmschen Text, Wissenschaftlicher Verlag Trier 2005 (Filmgeschichte International 15; zugl: Dresden, Univ., Diss. 2004)

 

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