31. August 2005

Härtung des ehemals Weichen

 

Mathematik machen Mathematiker. Naturwissenschaftler benutzen Mathematik, was ihnen ein großes Prestige verleiht, denn in ihren Ergebnissen spiegeln sich Anwendbarkeit und ein Höchstmaß an Plausibilität. Geistes- und Sozialwissenschaftler haben es dagegen traditionell schwer, der Geist weht, wo er will, und auch das Soziale ist ein ganz und gar nicht mathematisierbares Konzept. Der Vorwurf: weiche Wissenschaften, wenn überhaupt. Spätestens in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts dürfte aber klar geworden sein, dass auch in den in Frankreich „Humanwissenschaften“, hier und da auch „Konjekturalwissenschaften“ genannten Disziplinen ein massiver Import an harter Modellware eingesetzt und sich durchgesetzt hat.

 

Dafür darf u.a. der Terminus „Strukturalismus“ stehen, dessen Anfänge bis weit in die Anfänge des Jahrhunderts zurückgehen (Ferdinand de Saussure), die semiotischen Forschungen der US-amerikanische Variante datieren sogar im 19. Jahrhundert (Charles Sanders Peirce). Geisteswissenschaftler hatten Begriffe zur Kenntnis zur nehmen, von denen erst mal nicht klar war, was das etwa zur Interpretation von Gedichten beitragen mochte: System, Semiose, Oppositionspaare, Komplexität, Grenze usw. Vera Wenzel legt in ihrer Arbeit den Schwerpunkt weniger auf die Sender- als auf die Empfängerseite, von Mathematik ist hier also eher nicht die Rede, und wenn, dann wird diese als „Sprache“ gefasst, „die nicht auf die Wirklichkeit, sondern nur auf sich selbst bezogen ist“. Der strukturalistisch geschulte Leser weiß, dass der Zugriff auf die Wirklichkeit nicht direkt ist, sondern über dazwischen geschaltete, unsichtbare Codes geschieht. Dieses konstruktive Moment teilen nun aber Natur- wie Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Wille zur Abstraktion ist also auch in den vermeintlich weichen Wissenschaften auszumachen.

 

Der Kommunikationsbegriff war geneigt, den traditionell starken Bewusstseinsbegriff zu verdrängen, und vermeintlich fixe Bedeutungen wurden in der Lotman’schen „Semiosphäre“ auf die Reise geschickt. Zudem macht Wenzel darauf aufmerksam, dass das, was seit einiger Zeit als „Technikdiskurs“ bekannt ist, nicht in erster Linie von der technischen Seite aus geführt wird, sondern von den zunehmend holistischer eingestellten „weichen“ Disziplinen – meist in durchaus kritischer Absicht. Wenn also im Technikdiskurs von „technischen Artefakten“ die Rede ist, so heißt das nicht, dass deren Produktion, Distribution und Konsumtion allein auf der technischen Seite zu verbuchen ist. Durch „sekundäre Codes“ werden solche Artefakte (zu denen etwa auch Personenwagen zählen, deren (Vor-)Geschichte die Autorin in einer Fallstudie vorstellt) besprechbar, verhandelbar und veränderbar. In ideologiekritischer Absicht hat etwa Haug in den 70er Jahren den „Warenfetischismus“ thematisiert, Autoren wie Roland Barthes oder Jean Baudrillard haben gezeigt, wie sehr der Zeitgenosse nach wie vor in mythologischen Zusammenhängen verstrickt ist, mit denen aber auch zugleich ein ironisches Spiel möglich ist. Ein Auto ist nie nur ein Auto, sondern gegebenenfalls auch schon mal eine „Göttin“ (nach dem im Französischen möglichen Wortspiel mit dem Citroën „DS“, was sich wie „déesse“ = Göttin liest).

 

Das ist alles eigentlich nicht so fürchterlich neu, und liest man das zum Abschluss präsentierte Fallbeispiel, fragt man sich, warum die Autorin so viel Aufwand betrieben hat für Dinge, die mittlerweile als selbstverständlich gelten dürfen. Der Anteil der Mathematik am semiotisch geführten Technikdiskurs ist zudem eher „tropisch“, alles andere wäre wohl als Missverständnis zu werten. „Spuren der Erkenntnis“ ist etwas schwerfällig geschrieben, immer wieder stören rekurrente grammatische Schwächen der Autorin den Lesefluss, der auch durch das inhomogene Druckbild nicht gerade erleichtert wird.

 

Dieter Wenk (08.05)

 

Vera Wenzel, Spuren der Erkenntnis. Mathematische Konzepte der Kultursemiotik im wissenschaftlichen Technikdiskurs, Berlin 2005 (Logos)

 

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