29. August 2005

Vergangenheit als Dokument und Trauma

 

Die vorliegende Publikation des Marburger Professors für Germanische und Deutsche Philologie ist eine nahezu vollständig erneuerte, reich bebilderte Fassung einer Einführung in das Nibelungenlied, die der Verfasser vor fast zwanzig Jahren veröffentlichte. Trotz aller Vorbehalte gegenüber einem realistischen Bildkonzept des hohen Mittelalters ist dem Autor bei folgender Bemerkung völlig zuzustimmen: „Eindringlicher als jede Beschreibung können die Bilder [vornehmlich aus den Handschriften des Nibelungenliedes] etwas von der Atmosphäre der vergangenen Welt vermitteln, in denen die Sage und das Lied entstanden sind und überliefert wurden.“ Jeder Leser und Betrachter darf also gespannt sein, ob sich bei ihm so etwas wie ein „dialektisches Bild“ (Walter Benjamin) einstellen wird, eine Art energiegeladene Konstellation zweier Bilder, wie sie erst kürzlich Giorgio Agamben in seinem Aufsatz „Nymphae“ thematisiert hat.

 

Heinzles neue Einführung ist in drei Teile geteilt: Der erste behandelt die „Vorgeschichte des Nibelungenliedes“, in dem viel Wert auf die Unterscheidung zwischen Sage und Lied des Nibelungenstoffes gelegt wird. Das Lied ist nicht einfach die schriftlich fixierte Form eines einheitlich überlieferten Sagenstoffs. Das konnte es schon deshalb nicht sein, weil die Sage vornehmlich mündlich tradiert wurde und in verschiedene Sagenstränge zerfällt, aus denen der (unbekannte) Dichter des Nibelungenliedes auswählen musste. Dieser Selektionszwang zeigt sich am deutlichsten an den Stellen, an denen verschiedene, sich selbst widersprechende Lagen vertextet wurden und den kritischen Leser auf die Heterogenität des Sagenstoffs verweisen. Heinzle spricht hier von der Übermacht der Tradition, das man auch als textuelles Unbewusstes fassen kann, in das der Autor des Lieds so verstrickt war, dass ihm gewisse Ungereimtheiten nicht aufgefallen sind.

 

Im zweiten und längsten Teil stellt Heinzle das Nibelungenlied vor, zunächst seine Entstehung und Überlieferung, wobei es sehr spannend ist zu verfolgen, wie der Autor (und mit ihm die Forschung) die Zeit des Verfassens des Lieds auf wenige Jahre einzugrenzen imstande ist. Reine Werkimmanenz hilft dabei gar nichts. Man muss sich die Mediävistik auch ein bisschen wie ein  Puzzle vorstellen, bei dem viele Bausteine verloren gegangen sind. Das gilt auch für die Überlieferung des Lieds selbst, dessen „Grundtext“ fehlt; was man hat, sind verschiedene Handschriften, die aber alle unvollständig sind (ein ähnlich gelagerter Fall in der neueren deutschen Literatur: Büchners „Woyzeck“). Im weiteren behandelt der Autor u.a. die Frage nach dem schon oft konstatierten mangelnden „Realismus“ des Lieds. Vieles wird benannt, fast nichts beschrieben. Der Autor vermutet, dass schon rudimentäre Raumarrangements zeichenhaft auf anderes verweisen, zum Beispiel auf Personalrelationen. Einen weiteren Schwerpunkt dieses Teils bilden die Figuren des Lieds. So kann etwa sehr plausibel gemacht werden, warum Siegfrieds Leben nur zu einem Teil Eingang in das Lied gefunden hat, das die ganze Jugend ausgrenzt. Das sei schlicht und einfach der höfischen Etikette geschuldet, die die „wilden“ Abenteuer des jungen Siegfried nur schwer hätte präsentieren können.

 

Der kurze dritte Teil behandelt die „Nachgeschichte des Nibelungenliedes“, das erst 1755 nach langer Vergessenheit wiederentdeckt wurde und dessen unheilvolle Rolle bei der Konstituierung eines fatalen deutschen Nationalbewusstseins eindringlich dokumentiert wird. Was noch Feldmarschall Göring von den Stalingrad-Kämpfern abverlangte – „Nibelungentreue“, also den Einsatz bis in den Tod, wie unsinnig er auch sei –, das scheint mittlerweile doch einer anderen Mentalität des „Deutschen“ gewichen zu sein, wenn man sich überhaupt noch auf die (Re-)Konstruktion von Nationalcharakteren einlassen möchte. Für (fast) alle offenen Fragen hat Joachim Heinzle einen sehr dichten „Wegweiser durch die Forschungsliteratur“ an die Hand gegeben, wobei zu betonen ist, dass die Einführung sich nicht in erster Linie an Wissenschaftler und Forscher wendet. Man kann das Buch auch durchaus wie einen kleinen Atlas konsultieren, in dem man einfach nur mal blättert oder sich den „abstract“ des Lieds für die nächste Wagner-Oper in Erinnerung bringen lässt.

 

Dieter Wenk (08.05)

 

Joachim Heinzle, Die Nibelungen. Lied und Sage, Darmstadt 2005 (Primus), 144 Seiten

 

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