Vorlaufen über den Tod hinaus
Man spricht ganz richtig von Déjà-vu-Erlebnissen und nicht, beispielsweise, von Déjà-vu-Objekten. Der subjektive Faktor ist nicht übertragbar, das Erlebnis keine wissenschaftliche Versuchsanordnung. Gleichwohl ist es deshalb nicht Schall und Rauch, es besticht im Gegenteil durch seinen präzisen inneren Vergleich, der im Grunde eine zeitliche Überlappung ist. Zeitreise ohne Ortsveränderung. Magisch. Und ein bisschen verstörend. Geht man im Kreis? Kommt man nicht voran? Hängt man in einer Schleife fest? Nach mehreren solcher Erlebnisse sagt man sich, dass so was halt hin und wieder vorkomme. Gibt’s auch bei anderen. Kein Grund zur Unruhe. Dann wieder kommen einem Zweifel. Sitzt man nicht doch insgesamt in der konstruktivistischen Falle fest? Die möglichen Antworten auf das Reale liegen alle irgendwie und irgendwo schon in einem bereit und warten auf ihr Abgerufenwerden. Pawlow, nur als Riesenkaufhaus. Déjà-vu als saisonale Wiedererkennung.
Es hat auch mit dem Déjà-vu als Sistierung von Bildern zu tun, dass Chris Marker in diesem halbstündigen Film (ein „Photoroman“, so der Untertitel) die Bilder das Laufen hat verlernen lassen. Was „La Jetée“ jedoch über die oft ziemlich banalen Déjà-vu-Situationen heraushebt, ist die logische Unmöglichkeit, die beiden scheinbar identischen Bilder – die „wirkliche“ Situation, in der die Erinnerung passiert, und das Erinnerte als antizipierender Erinnerungsdeckel, mit der das Spätere „gedeckelt“ wird – in eine chronologisch stimmige Abfolge zu bringen. Man kann gewissermaßen den Hut nicht abnehmen, ohne das Gehirn in Mitleidenschaft zu ziehen. „La Jetée“ ist sicherlich auch einer der kürzesten und dichtesten Liebesgeschichten, die das Kino je gezeigt hat. Eine junge Frau steht am Rande einer Plattform, die auf das Rollfeld eines Flugplatzes geht. In wenigen Fotosprüngen ist man auch schon bei ihr, aber da stürzt sie auch schon zusammen, anscheinend tot. Danach fängt auch gleich der Dritte Weltkrieg an. Eine Schwarzweißaufnahme von Paris, danach Bilder, die eine genaue Lokalisierung nicht mehr zulassen. Atomare Verwüstung. Überlebende versuchen ihr Glück im lokalen Untergrund.
Da es hier nicht mehr heißen kann: „Uns nährt die Erde“, kommen überlebende Wissenschaftler auf die geniale Idee, mittels Experimenten die klaustrophobische Kellerlokalität durch zeitliche Ausgriffe zu überwinden. Gefangenen werden die Augen für die Vergangenheit und die Zukunft geöffnet. Aber im absolut realen Sinne. Man hofft, die Gefangenen auf Zeitreisen schicken zu können. Die Erwartung: Informationsgewinn und Manipulationsmöglichkeiten auf der Zeitachse. Der Zeitreiseheld ist eben jener etwa 50-jährige Mann, dem der Zuschauer die nicht ganz geglückte Begegnung mit der jungen Frau verdankt. Und dann sehen wir es wieder, das Rollfeld mit der Plattform, auf der die Frau steht, und auch der Zeitreisende erkennt sie wieder, er setzt sich in Bewegung (die Bilder bleiben starr wie immer – bis auf eine Ausnahme etwa in der Mitte des Films, als die junge Frau die Augen schließt und wieder öffnet, Zeit genug, eine Welt zu begraben und wieder zu erwecken), er scheint zu rufen (der ganze Film wird von einem sehr diskreten Erzähler erzählt), er will sie warnen, da steht so ein merkwürdiger Mann, der wie ein Agent aussieht und irgendetwas aus einem Mantel herauszuholen scheint, und dann geschieht das, was in der Tat nicht mehr gezeigt werden kann, sondern das erzählt werden muss, denn diese Volte kann kein Bild – stehend oder laufend – einfangen.
Denn in diesem Moment wird ein zweites Mal gestorben, aber es ist nicht die Frau, sondern ihr Retter selbst, aber auch nicht er selbst als älterer Mann, sondern als Kind, dem alles Weitere gar nicht mehr als Déjà-vu hätte zur Verfügung stehen können. Die Zeitreise hat also geklappt, aber die Logik, mit der diese Reise ins touristische Hauptmenü integriert werden könnte, muss erst noch erfunden werden. Bis es so weit ist, sehen wir diesen Film immer wieder sehr gern.
Dieter Wenk (08.05)
Chris Marker, Am Rande des Rollfelds (La Jetée), F 1962, Buch: Chris Marker, mit Hélène Chatelain, Davos Hanich, Jacques Ledoux u.a.