12. August 2005

Laudatio und Blendung

 

Der ein wenig allgemein gehaltene und heuristisch-philosophische Grundlagenforschung ansinnende Titel dieses Sammelbands – eine Festschrift für die Literaturwissenschaftlerin und Didaktikerin Elke Mehnert, TU Chemnitz – mag Begehrlichkeiten wecken oder zu Stoßseufzern Anlass geben, die ein kurzer Blick ins Inhaltsverzeichnis gleichermaßen zu beruhigen imstande ist. In den meisten Beiträgen geht es ganz bodenständig zu, so berichtet Peter Jurczek von der „Geographischen Nähe und Fremdheit Tschechiens zu Sachsen – Erkenntnisse zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit über die Grenze hinweg“, Eugen Kotte informiert über „Historisch orientierte Europabilder in Polen, Tschechien und Ungarn“, Jutta Radczewski-Helbig untersucht die „deutsch-jüdischen Beziehungen im Werk von Bernhard Schlink“ und Regina Hartmann nimmt den Leser mit auf eine Reise Theodor Mundts „zu den Goralen der Karpaten im Jahre 1839“.

 

Ein Gutteil der Autoren ist Mitglied der von der Jubilarin geleiteten Forschungsgruppe „Komparatistische Imagologie“ an der TU Chemnitz, die z.B. untersucht, welche „Images“ Völker von anderen Völkern haben, wie sich diese Einstellungen, vor allem als Stereotypen, in literarischen Erzeugnissen niederschlagen und wie diese „implizit“ den Rezipienten leiten (wollen). Ziel der Veranstaltung: das Aufbrechen nationaler Clichés. Komparatistische Imagologie steht also fest in der Tradition der Aufklärung und Ideologiekritik. Jeder wird sich im Zuge der bereits erfolgten und der noch ausstehenden EU-Erweiterung gefragt haben, was er von Ländern wie Ungarn oder Polen „wirklich“ weiß bzw. was er aus dem vermutlich gar nicht so großen Sack an Etiketten herausfischen wird, wenn er um eine Stellungnahme gebeten wird. Der aus dem Westen Europas kommende Kandidat wird nicht sehr viel Wissen mitbringen, und was er weiß, ist nicht dazu angetan, zu euphorisieren. Es gäbe also wirklich viel zu tun. Allein der aufzubrechende Status dieses Verhältnis lässt die Veröffentlichung willkommen sein.

 

Allein man fragt sich, warum gerade Literatur ein bevorzugtes Forschungsfeld bei der Beseitigung von Clichés abgeben soll. Literatur ist in erster Linie Fiktion, ihre Bezugnahme auf die so genannte Wirklichkeit alles andere als eindeutig. Nun kann man natürlich einwenden, dass manche Literatur „realistischer“ sei als andere, das Bild Stendhals vom am Wegesrand aufgestellten Spiegel mag einem einfallen. Aber selbstverständlich ist das Realismus-Etikett kein Wirklichkeitsauthentifizierer. Eine kleine methodologische Grundsatzüberlegung zum Verhältnis von Text und dessen Bezugnahme hätte man sich hier also schon gewünscht. Die scheinbare Opposition von Identität und Alterität ist zudem so grob, dass man sich fragt, ob es etwas gibt, das nicht als Thema darunter fällt. Entsprechend heteroklit sind ja dann auch die Beiträge des Bands. Zwar wird eine Dreiteilung als Gliederung behauptet, aber auch schon intern lässt sich eine Art Bogen, sei es formaler oder inhaltlicher Art, kaum ausmachen.

 

Eine bunte Mischung erwartet den Leser. Im ersten Teil geht es um das Verhältnis der Welt der Literatur und der Welt der so genannten Realität (die in der Sprache der komparatistischen Imagologie etwas hochtrabend „transgrediente Grundlage“ genannt wird). Am gehaltvollsten erscheint hier Jürgen Joachimsthalers Beitrag zum Schreiben Samuel R. Delanys, der als gewitzter Romanautor dieses Verhältnis allerdings postmodern unterläuft. Nach der Postmoderne fällt einem jedoch auf, wie stereotyp (bei aller Kompliziertheit der Leserverwirrung) dieses Unterlaufen – nicht nur bei Delany – praktiziert wurde. Der zweite Teil versammelt Aufsätze zur großen Katastrophe im Europa des 20. Jahrhunderts im „Spiegel“ literarischer Texte (u.a. von Bernhard Schlink, Johannes Bobrowski, Angelika Schrobsdorff). Angesichts der medialen Bemächtigung dieser Geschichtsphase darf gefragt werden, ob eine Überbeschäftigung nicht eher kontraproduktive Effekte hat. Außerdem fällt leider oft auf, wie brav und langweilig sich germanistische Texte lesen. Da gibt es eben dann eine Latte von „imagotypen Elementen“, und dann macht man sich auf die Suche: „Identität“ ist ein solches Element (was zu bezweifeln ist), „nüchterner Realismus“ ein weiteres, „bulgarische Tradition“ ein drittes. Das Ganze artet ziemlich in Erbsenzählerei aus und prompt sitzt man selbst im Cliché-Karussel, aus dem man sich doch selbst und andere befreien wollte. Man fragt sich, wozu diese Veranstaltung gut sein soll.

 

Literarische Texte sind kein Vademecum der Völkerverständigung, wogegen natürlich überhaupt nichts gesagt sein soll. Aber komparatistische Imagologien ließen sich viel fruchtbarer machen etwa bei Zeitungstexten oder überhaupt bei grenzüberschreitenden Alltagsgeschehnissen. Die „Lust am Text“ ist unhintergehbar und stellt noch der ausgefuchstesten Imagologie ein Bein.

 

Dieter Wenk (08.05)

 

Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität. Festschrift für Elke Mehnert, hg. von Sandra Kersten und Manfred Frank Schenke, Berlin 2005 (Frank & Timme)

 

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