12. August 2005

Falken über Pisa

 

Es gibt nicht viel, was der kleine Billy Casper respektiert. Jedenfalls keine Menschen. Zu Hause ist er der Stiefelknecht seines älteren Bruders, im wahrsten Sinn des Worts, die Mutter völlig überfordert mit Billy und Jud, der Vater ist weg und ein neuer noch nicht gefunden, obwohl die Mutter anscheinend viel herumtestet. Seinen Geldgeber nimmt Billy nicht Ernst – vor der Schule trägt er Zeitungen aus – und Mundraub ist für ihn kein Delikt. Die Schule interessiert ihn nicht die Bohne, während umgekehrt die Lehrer und manche Schüler sich ein wenig zu viel mit ihm beschäftigen. Keine Freunde also weit und breit. Während er einmal wieder ziellos herumstreift, sieht er einen Falken, der irgendwo in der Nähe ein Nest zu haben scheint. Der Typ, auf dessen Grundstück sich der Turm mit dem Falken befindet, reagiert erst grob, zeigt sich aber dann doch interessiert an Billys Interesse. Sagt ihm, wo er hingehen muss, um mehr über Falken zu erfahren. Stadtbücherei. <?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

 

Natürlich ist Billy noch nicht registriert, bräuchte eine Unterschrift seiner Mutter, das dauert ihm zu lang, in einem Antiquariat klaut er ein Buch über das Abrichten von Falken. Liest es durch, klaut dem Falken ein Junges aus dem Nest, zieht es auf und richtet es ab. Der kleine Falke heißt Kes. Jetzt gibt es nichts anderes mehr als Kes. Das merken auch die anderen Schüler, die Billy noch weniger sehen als zuvor. Billy prahlt nicht. Ihm ist egal, was die anderen dazu sagen. Hauptsache, sie lassen ihn in Ruhe, wenn ihn schon sein blöder Bruder daheim nicht in Ruhe lassen kann. Mädchenheld, der in die Grube fährt, als Steiger. Was Billy Kes, sind Jud die Mädels. In der Schule geht die Liebe nicht ganz so weit. Der Sportlehrer gibt die Richtung an: Eigenliebe. Und schön die Schüler triezen. Der Direktor hat den Kontakt zu den Schülern komplett verloren. Weiß nicht, was in deren Hirnen oder was an deren Stelle getreten ist, abgeht. Lobt die guten alten Zeiten, in denen die Schüler froh, waren, geschlagen zu werden. Während heute. Völlige Gleichgültigkeit.

 

Sehr schön die Szene zwischen Billy und dem Arbeitsvermittler. Billy ist das alles egal, was interessiert ihn schon die Rentenversicherungskarte und der ganze Hokuspokus, das ist alles höhere Mathematik für einen Jungen, der nur eins im Kopf hat, das aber richtig. Ein eher unfreiwilliger Vortrag vor der Klasse verschafft ihm Respekt vor den anderen und sogar vor dem Lehrer, der ihn sogar im freien Feld besuchen kommt und dem Billy seine Philosophie von der unbeeindruckbaren Schönheit des Falken erzählt. Kes lässt sich nicht zähmen, nur bewundern. Natürlich rächt sich Billys Egomanie. Aber wo fing die Rachekette an? Billy jedenfalls versäumt es, für seinen Bruder zu wetten, kauft lieber Fleisch für Kes. Leider hätte Jud viel Geld gewonnen, wenn. Das hätte ihm eine Woche Bergwerk erspart. Jud sucht Billy überall, in der Schule, vergebens, dann muss eben der Falke dran. Als Billy das nächste Mal den Käfig öffnet, ist Kes weg. Er sucht ihn überall, ahnt Schlimmes, der Bruder gibt zu, Kes die Kehle umgedreht zu haben. Ein kurzer, heftiger Klagelaut, dann ist die Fassung wieder da, ein Vogel wird begraben. Schluss.

 

Ein sehr schöner kleiner Film über das Glück derer, die Leidenschaft haben, auch wenn diese nicht vom Himmel fällt, sondern eher ein Abfallprodukt sozialer Misere ist.

 

Dieter Wenk (08.05)

 

Kenneth Loach, Kes, GB 1969, mit David Bradley (und vielen Laienschauspielern)