9. August 2005

Überlagerungen

 

Ein Film zum sofortigen Abtauchen. Hinein und zurück in die Kindheit. In die Zeit, in der die kleinen Jungs erneut sprachlos werden, bevor sie sich ihren Vorrat anlegen. Wenn sie sich gegenüber kleinen Mädchen befinden, die ihnen nicht nur gut gefallen, sondern die sie die ganze Zeit ansehen können, und die Jungens es am liebsten hätten, dass eine riesige Blase um sie herum wüchse, auf dass es kein Entkommen mehr gibt. Das Mädchen liegt auf dem Boden, es stürzte beim Rennen, Fliehen – vor wem? Der Junge lief einem Ball nach, den er plötzlich links liegen ließ, weil sein alter Jagdinstinkt erwachte. Natürlich weiß er gar nicht, was er da macht und zu was das führt, aber er kann nun mal nicht anders, er läuft hinter dem Mädchen her, bis es stürzt.

 

Und dann sehen sie sich an. Bitte vergewaltige mich nicht, würde jetzt eine erwachsene Frau sagen, und der Soldat, der der Frau gefolgt wäre, würde vielleicht im Moment des Sturzes der Frau denken, dass die Frau denkt, er würde sie jetzt missbrauchen, und er antizipiert den Blick der Frau, er möchte ihn schon jetzt, bevor sie sich ihm zugewendet hat, durchstreichen, ihn anders ausrichten, aber das geht natürlich nicht vorher, also wird er sich so verhalten, dass sie sofort merkt, woran sie ist, dass das ein verrücktes Spiel war in einem sehr realen kriegerischen Milieu, und es ist anzunehmen, dass die Frau deshalb erst gar nicht auf den Gedanken kommt, der Soldat könne auch anders, und das Mädchen, das natürlich diese ganze Erfahrung ihres künftigen Stiefopas nicht kennt, und dessen Furcht möglicherweise in einer sehr zwiespältigen Unbestimmtheit liegt, schaut also jetzt ihren kleinen Verfolger an, seine weit aufgerissenen Augen, die erst einmal sehen wollen, was da zu seinen Füßen liegt, und er sieht also dieses sein eigenes Staunen zurückgeworfen im Blick seines kleinen Rehleins, und die beiden Menschenkinder haben sofort diese Welle gefunden, die sie trägt, wo es keines Zutuns mehr von außen braucht, weil sich der Bann ganz in seiner Gegenseitigkeit hält.

 

Das ist der Anfang des Films und der Geschichte von Ana und Otto, und ohne ihn wäre alles andere nichts. Die Schritte der Annäherung, der Familiarisierung, der Vergeschwisterlichung, die doch nur nach außen so genannt wird. Das erste Ausstrecken seiner Hand, das erschrockene Wiederzurückziehen, die erneute Stummheit vor dem anderen Körper, der jetzt reif geworden ist, erste Liebe. Und wie überall gibt es auch einen oder eine dritte, und das ist die Familie, hier, die Mutter des Jungen, von der sich sein Vater getrennt hat. Eine Deutsche. Ihr Selbstmord bringt alles durcheinander. Auch den Film, selbst wenn sich durch die Konsequenzen dieser Tat wunderbare Parallelen zu eben dem Deutschen (Otto) herstellen lassen, der im Krieg als Fallschirmjäger in den spanischen Wäldern hängen blieb und von einem Spanier befreit wurde (anschließend kommt es zu der kleinen Hetzjagd, die eben anders endet als sonst). Tod im Schnee? Nein, die beiden werden noch einmal gerettet, aber ihre vorerst getrennten Wege beginnen. Bis der zweite Otto auch Flieger wird und Ana sich zu ihren eigenen Ursprüngen aufmacht nach Finnland. Es waren zwei Königskinder. Der Liebe.

 

Dieter Wenk (01.01)

 

Julio Médem, Die Liebenden des Polarkreises (Los amantes del círculo polar), Spanien 1998