7. August 2005

Der Weg ist das Ziel

 

Als Niemand trickste Odysseus Polyphem aus. Unser kluger Mann aus Ithaka, aber genützt hat’s ihm nicht wirklich, immerhin brauchte er 20 Jahre, um wieder nach Hause zu kommen. Der Held in diesem Reiseepos heißt Martin Niemals. Niemals wird es Sommer in Ushuaia, Feuerland, oder: niemals bekomme ich Post von Papa. Sein richtiger Papa, der irgendwann abgehauen ist. Mit dem zweiten versteht sich Martin überhaupt nicht. Die Mittelschule, in die Niemals geht, sieht wie ein Kafka’sches Gefängnis aus, ist ungeheizt und zerfällt zunehmend. Dann ist da noch seine Freundin, die in einem Videoladen arbeitet und für Feuerland fasst ein bisschen zu hip daherkommt. Sie wird schwanger, Martin freut’s, sie treibt ab, Martin ist sauer. Ihr Vater sowieso.

 

Gründe genug, die Koffer aufs Mountainbike zu packen und loszufahren, mal kurz hoch nach Mexiko, schlappe 11 000 Kilometer (oder Meilen?). Dort soll nämlich Dad leben, in Paraiso, einer Minenstadt. Vater Nicolas Niemals ist ein lustiger Geselle, der Comics zeichnet. Die kriegt man hin und wieder auf der Reise auf die Leinwand gebannt, düstere Geschichten von der Unterdrückung Lateinamerikas durch die Weißen. Dann tauchen in der Wirklichkeit Gestalten auf, die Martin zuerst in den väterlichen Comics gesehen hat, zum Beispiel den karibischen Lastwagenfahrer mit dem irren Lachen, der mit dem Bauch fährt und lenkt. Oder dann der Fährmann durch die riesigen überschwemmten Gebiete. Dort besucht Martin auch seine Großmutter, die just in dem Moment noch weiteren Besuch bekommt, nämlich vom Sarg ihres verstorbenen Gatten, der es bei der Flut in seiner Gruft nicht mehr ausgehalten hat. Martin und Oma sitzen dann gemütlich im Wohnzimmer, in dem das Wasser einen halben Meter hoch steht. Oma Niemals hat sich gut arrangiert, wenn etwas zu Boden (also ins Wasser) fällt, ist es eben verloren, wie etwa Löffel oder Ähnliches.

 

Weiter geht es, durch vor Scheiße stinkende Wasserstädte mit den so genannten Entscheißern, die ein Minimum an Ekelreduktion vollbringen und Antivomitivtabletten verabreichen. Dann kommt der Dschungel, da geht es gefährlich zu, wer Lastwagen klaut, bringt auch gleich den Fahrer um. Martin: Es war grauenhaft (Tränen in den Augen). Das sagt er zu dem lustigen Kariben, den er wieder getroffen hat. Dann ist da noch dieses „geheimnisvolle“ Mädchen in dem roten Kleid, das nicht spricht und das Martin immer wieder über den Weg läuft. Wenn man es das erste Mal sieht, denkt man ( dachte ich): oh nein, bitte nicht, nicht wieder diese begleitenden und schützenden Musen, nicht wieder diesen folkloristischen Kitsch, auch wenn das verifizierbar ist in der lateinamerikanischen Mythologie. (Ignorant, o.k.)

 

Fast am Ziel seiner Reise wird Martin sein Fahrrad geklaut, dafür lernt er ein nettes ausgebeutetes Mädchen kennen, das im vierten Monat schwanger ist und das jetzt einmal richtig Spaß beim Sex haben wird. Und dann kommt Martin bei den Goldgruben an, verdingt sich sogar als Arbeiter, aber wer nicht da ist, ist sein Vater. Aber es gehe ihm gut, so ein Bekannter aus Feuerland. Und dann kommt unserem kleinen Odysseus die eigentliche Erkenntnis, dass die Reise das Ziel war, dass sein Vater überall zugegen war und dass er ihn gar nicht mehr wirklich sehen muss. Die phantasierte Begegnung wird dem Zuschauer aber noch zugemutet, der lustige, vom Auto springende Alte, hey Sohn, wir werden zusammen wohnen (!). Da kann ich nur sagen: Nieder mit den Vater-Sohn-Geschichten. Keine Roadmovies mehr zu den Vätern.

 

Dieter Wenk (01.01)

 

Fernando E. Solanas, El Viaje, Argentinien/Frankreich 1992