5. August 2005

Kommentierung der eigenen Abschaffung

 

New York, 1978. Sollers trifft sich mit David Hayman, einem Joyce-Spezialist. Ein langes Interview, 200 Seiten. In der ersten Hälfte geht es ums Sollers’ Werdegang, in der zweiten vor allem um „H“, sein jüngstes veröffentlichtes Buch, sein erstes ohne Interpunktion, und „Paradis“, sein work-in-progress, dessen erster Teil 1981 zum ersten Mal als Konvolut erscheint, nachdem es in Sollers’ Zeitschrift „Tel Quel“ wie ein Fortsetzungsroman erstveröffentlicht worden war. Sollers, 1936 in Bordeaux geboren, industrieller Hintergrund, Privatgrundbesitz auf der Insel Ré. Frühreif in jeder Hinsicht, also in den folgenden zwei: sexuell, literarisch. Sein erster Roman wird durch die verschiedenen, entgegengesetzten religiösen und politischen Bänke gelobt. Aragon, Mauriac. Das hält nicht lange an. Der junge Girondist ist störrisch. Zum Beispiel will er nicht nach Algerien. Also in den Krieg. Er simuliert. Was ihm gelingt, nach drei Monaten. Anscheinend hat Malraux seine Hand mit im Spiel gehabt. Später wird Sollers seinen Erstling nicht mehr gelten lassen, Proust-Nachfolgeroman. Ein junger Mann auf der Suche nach sich selbst. Und er findet sich.

 

Nach einer kurzen Zwischenstation auf dem damaligen Hochplateau des Nouveau roman („Le parc“) landet er im referentiellen Nichts. Mit „Drame“. Worauf „Nombres“ folgt. Ungenießbare Texte, die in sich selbst zirkulieren, aber wo sich schon der Monteur des verbalen Soundscape ankündigt. Die Halluzination. Das Darübergleiten über den Text, was einschließt, dass man diese Texte laut liest. Wie ein Gebet. Oder auch eine zu sich selbst gesprochene Predigt. Was einiges über Bord werfen wird, auf der damals schon mächtig in Seenot geratenen literarischen Hafenpolizei. Aufgabe des Message-Pakets. Wenn man sich auf diese Texte einlässt, zirkuliert das zwar, aber anders, als die Polizei vorgeschrieben hat. Mit „Lois“ beginnen seine Texte erneut, sich mit Sinn zu füllen, der aber kein einsinniger ist, der auch keinen Ausgangspunkt mehr hat, etwa in einem biografischen Autor, sondern sich im und mit dem Voranschreiten stets neu definiere und neu zerstöre.

 

Sollers gibt in diesem Gespräch ein paar Koordinaten an die Hand. Die Entdeckung von Joyce, „Finnegans Wake“, die Faszination der autorlosen Bibel, in der sich schon das ganze Schauspiel der unmöglichen Schrift entfaltet findet, die unentwegten Abfälle und Attraktionen, die Paradoxien der Dreieinigkeit und des blinden Flecks und schließlich der illusionslose Blick auf die Geschlechterdifferenz, wo es kein Zueinanderkommen gibt, wo man aber ein tödliches Gelächter anstimmen kann über die verschiedenen Spins von zentrifugaler und zentripetaler Orientierung, was dann ein paar Jahre später in „Femmes“ ausführlich vorgeführt wird. Wirklich mögen kann man die „Vision“ eigentlich nicht, es gibt gute Stellen und unerträgliches Geschwafel und es fällt einem als Leser schwer, dieser absoluten Verrationalisierung von (vor allem eigenen) Texten zu folgen, da sie im Bombast einer Wortmaschine vorangetrieben wird, die sich in ihrer signifikanten Überdeterminierung (oder ihrer tuberkulösen Menetekelhaftigkeit, aber das läuft aufs Gleiche hinaus) selbst abschafft. Aber auch das noch scheint mit zum Wortspiel zu gehören. Sollers, forever.

 

Dieter Wenk (01.01)

 

Philippe Sollers : Vision à New York, Paris 1981 (Grasset et Fasquelle)