30. Juli 2005

Die Lust der Nazis

 

Wer wäre nicht gern im Besitz dieser Wahrheit – über die sexuellen Praktiken der Obernazis, noch dazu angesichts des unmittelbar bevorstehenden Untergangs des Reichs, das nur noch ein Luftschutzbunker ist. Ein Film ist anscheinend wieder aufgetaucht, eine Art Porno, der genau diese Phantasien vorführen soll. Das sagt jedenfalls ein New Yorker Kunsthändler vor geladenen Gästen. Niemand kennt den Film oder denjenigen, der ihn besitzt. Mittelsmänner oder -frauen, ja. Die tot aufgefunden werden. Zu heiße Ware? Hat der Senator seine Finger im Spiel, er, der so besessen ist von erotischer Kunst?

 

Das würde auch gerne Miss Robbins, eine Journalistin, herausfinden. Und noch einige andere Herrschaften und obskure Organisationen. Und irgendwann beginnt der Leser sich zu fragen, wie das alles zusammenhängt, diese mehr oder weniger kaputten Typen mit einer eher illustren, heroischen Vergangenheit, die für den einen Vietnam ist, für andere radikale Gesellschaftskritik, die im Grunde schon Terrorismus ist. Begegnungen der Figuren schillern wie gefährlich anmutende Inseln in einem kaum zu bändigenden Strom aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Oder, wie es der Text mit einem Bild (der in der Luft schwebende Rabe) indirekt über sich selbst sagt: „...unmerkliche Übergänge, bei denen der Beobachter ratlos nach fehlenden Abschnitten von Raum oder Zeit suchte.“

 

Düstere, abgeklärte, zynische Gestalten, Dialoge, die man nur lesen kann, weil man sich eigentlich nicht wirklich Leute vorstellen kann, die so reden, weil es zu perfekt ist. Hypnotisierende Kraft des Verruchten und Kranken. Faszinierend. „Faszinierend, ja. Ein interessantes Wort. Vom lateinischen fascinus. Ein Amulett, das wie ein Phallus geformt ist. Ein Wort, das denselben Stamm hat wie das Wort ‚Faschismus’.“ Was macht der Roman mit diesem Etymon? Vielleicht ist er selbst das Amulett, das vor Behexung bewahren soll, in deren Bannkreis er sich gleichwohl begibt. Denn nichts wirkt faszinierender als das, was man nicht kennt, und von dem man doch zu glauben meint, dass es ziemlich am Ende eines Stücks der Parabel liegt. Und die zu erwartende Bestätigung ist genau das erregende Moment, das man zugleich erwartet und doch noch ein klein wenig aufschieben möchte. Weil man weiß, dass das, was kommt, nur eine Enttäuschung sein kann. Oder ein Witz, sei er gut oder schlecht.

 

DeLillo zeigt den Film, ganz am Ende. Und er löst keine Enttäuschung aus, ganz im Gegenteil, der große Diktator, der tatsächlich auftritt, wuchtet dem Leser, dem Zuschauer, nicht sein Amulett entgegen, nein, der Eingeschlossene von Berlin zieht eine etwas andere Show ab, die niemanden gleichgültig lassen kann. Ebenso wenig wie das Ende, das auf einem anderen Schauplatz stattfindet, und das einen vielleicht ein wenig mit einer Haltung bekannt machen möchte, die sich so beschrieben ließe: Nach so viel Schwärze, Schmerz, intelligenter Dauerdesillusioniertheit – wie soll das jetzt weiter gehen? Es geht um die Bestattung eines Freundes, der in einem Kampf wie ein Samurai gestorben ist. Levi, der Bestatter, der Freund, selber schon in posthumanen Sphären sich aufhaltend, fragt sich, wie er vorgehen soll. Ein Ritual. „Er wusste genau, wie man anfing. Man fing an, indem man ein paar Haarsträhnen aus der Kopfhaut des Toten herauszupfte.“

 

Das mag so sein, aber wie macht man das bei jemandem, dessen Körper, also dessen Leiche, nicht mehr ganz vollständig ist, weil der Kopf fehlt, den man nach dem Kampf abtrennte? Faszinierend.

 

Dieter Wenk (01.01)

 

Don DeLillo, Bluthunde, Deutsch von Matthias Müller, Köln 1999 (Kiepenheuer & Witsch), Running Dog, 1978