30. Juli 2005

Don Quichotte der Gesellschaftstheorie

 

Worüber beklagen sich Verkäufer, wenn sie sich über mangelnde Zahlungsmoral beschweren? Selbstverständlich darüber, dass ihnen das Geld fehlt. Irgendwie aber auch über die nachlässige Moral der Zahlungsunwilligen. Das ist ein Gedanke, der Jürgen Ritsert umtreibt. Würde der wirtschaftliche Tausch rein mechanisch ablaufen, müsste man solche Art Vorwürfe als anachronistisch abtun. Wer zahlt, zahlt. Wer nicht zahlt, spielt nicht mehr mit. Doch weder die Wirtschaft noch die Gesellschaft lassen sich Ritserts Meinung nach auf reine Nützlichkeitsvorstellungen reduzieren. Der Autor weiß, dass er gleich Don Quichotte gegen akademische Windmühlen ankämpft, wenn er seiner Zunft immer wieder Blindheit auf dem normativen Auge vorwirft. Zu attraktiv sind die Spiel- und Entscheidungstheorien der Gesellschaftswissenschaften, die auf unwägbare moralische Einstellungen denken verzichten zu können. Ihre Maschinen lassen sich mit allen möglichen Parametern speisen. Man stopft oben etwas rein, aufgeklärte Nutzenmaximierer oder verschleierte Individuen, die nichts über ihren Status wissen, und nach diversen Verträgen und utilitaristischen Maximierungsdurchgängen kommt unten dann fix und fertig ein Staatsbürger oder homo oeconomicus heraus. Idealistischer Ballast wie Geist, Moral, Sittlichkeit können in solchen Mühlen kaum berücksichtigt werden. Die neo-klassische Nationalökonomie der Gegenwart verschärft das Bild des „lebenstüchtigen“ Individuums zudem durch die „Maximierungsregel“. Die klassische Motivationshypothese von der Selbsterhaltung steigert sich somit automatisch zu einem Menschenbild des selbstsüchtigen Einzelgängers.

 

Diesem engen Begriff von Gesellschafstheorie setzt Ritsert die Sozialphilosophie als Metatheorie gegenüber. „Metatheorie ohne Fachwissen ist leer, Fachwissenschaft ohne Selbstreflexion ist blind“, bringt der Autor seine Kritik auf den Punkt. Der Fachborniertheit und Erbsenzählerei der Gesellschaftsmechaniker muss eine philosophische Selbstreflexion hinzugefügt werden. Begriffe wie „Freiheit“, „Person“ und „Ich“ spielen in den Sozialwissenschaften immer noch eine zentrale Rolle. Nur werden sie meistens im Rahmen anderer Sprachspiele bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Demgegenüber scheut Ritsert nicht davor zurück, mit Kant und Fichte den Begriff des „freien Willens“ als normative Idee wieder einzuführen.

 

Natürlich ist die Idee des freien Willens eine kontrafaktische Annahme, aber das heißt für Ritsert nicht, dass sie unnütz und historisch überholt wäre. Noch immer treibt die Politik und Sozialwissenschaft die Frage des Zusammenstimmens freier Willensäußerungen der Einzelnen, wie sie Rousseau gestellt hat, um. Ritsert verwendet darum viele Seiten darauf, den scheinbar frei schwebenden Idealismus auf den Boden des 21. Jahrhunderts zurückzuholen. Kant und Hegel beispielsweise waren nicht so weltfremd, von den alltäglichen Motiven und Bedürfnissen der Menschen abzusehen. Im Gegenteil. Die Willkür etwa ist bei ihnen durchaus positiv konnotiert, als „Zwischenstellung des Wollens endlicher Wesen zwischen der Idee des reinen Willens und der blanken Determination unseres Handelns“. Nicht erst beim freien Willen, sondern schon bei der Willkür handelt es sich um ein Stück denkender Abstandnahme und ein Moment der Selbstbestimmung.

 

Ritsert folgt in seinem Vorgehen zunächst der Systematik der klassischen Vertragstheoretiker: Beschreibung des Naturzustands – Bild der Menschen im Naturzustand (Handlungsmotive) – Gründe für den Ausgang aus dem Naturzustand – Verträge beim bzw. nach dem Ausgang aus dem Naturzustand – Begründung gesellschaftlicher und/oder staatlicher Organisation. Im zweiten Hauptteil versucht er dann, die moderne politischen Philosophie in der Willensmetaphysik zu verankern. Ausgehend von Kants Freiheitsantinomie argumentiert er gegen die abstrakte Dichotomisierung von Freiheit und Determination, Sittlichkeit und Nützlichkeit. „Begreift man die Willensverhältnisse als Anerkennungsverhältnisse, dann hat der freie Wille des Subjekts die Bestätigung durch andere mit einem freien Willen begabte Subjekte zu seiner entscheidenden Entwicklungs- und Bestandsbedingung. Damit scheint im Lichte der Idee des reinen Willens mindestens ein Typus der Abhängigkeit von etwas Anderem auf, der nichts mit bedrückender Heteronomie etwa in der Form historischer Spielarten und Grade gesellschaftlicher Repression zu tun hat. Die Autonomie des Subjekts ist immer auch von individuellen und institutionellen Umständen und Bedingungen abhängig, welche Selbstständigkeit fördern!“

 

Dabei präsentiert der als Adorno-Spezialist bekannte Autor gewiss keine Heilsgeschichte. Ritsert geht es um vernünftige Prinzipien der Gesamtordnung und um die Möglichkeit von Gesellschaftskritik. Die Verbindung der Gesellschaftstheorie mit der Ethik macht für ihn deshalb immer noch Sinn. Vom Ende der Geschichte oder vom Abdanken großer Erzählungen kann also keine Rede sein. Denn die Kontroverse zwischen Nützlichkeit und Sittlichkeit, Altruismus und Utilitarismus „weist alle Qualität einer endlosen Geschichte auf“.

 

(Erstveröffentlichung in Widerspruch Nr. 43)

 

Gustav Mechlenburg

 

Jürgen Ritsert: Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie, Münster 11/2004, Westfälisches Dampfboot

 

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