29. Juli 2005

Am Brecht-Pool

 

Brecht lag noch in der Luft, die Roland Barthes, Godard und andere atmeten. Aber jedem epischen Theater geht die Luft aus, sobald eine schöne Frau die Bühne oder den Filmstreifen betritt. Und wenn die schöne Frau dazu noch gleich am Anfang so nebenbei eine ganze Doktrin dieses Theaters aus den Angeln hebt, so bekommt man einfach nur bestätigt, dass man im Kino sitzt und nicht im Theater. Nana lernt, dass das Aussprechen von Sätzen nicht nur den Effekt haben kann, verschiedene Perspektiven einzuräumen, sondern auch den, den ausgesprochenen Satz in eine semantische Nacht einmünden zu lassen. Womit für das Kino nichts verloren ist. Es muss ja nichts beweisen.

 

Nana will sich beweisen, dass das Kino das Leben ist, ihr Leben sei. Sie hat zuwenig Geld. Sie ist unzufrieden. Paul, ihr Ex, hat Bilder von ihr gemacht. Ob die reichen, um ins Filmgeschäft einzusteigen? Eher nicht, der Journalist sahnt sexuell für eine Nacht ab, und tschüss. Dann geht Nana ins andere Gewerbe. Lernt über Yvette, eine Freundin, Raoul kennen. Der wird ihr Zuhälter. Den von ihr geschriebenen Brief, knapp zwei Minuten dauernd, wird in Echtzeit gezeigt, braucht sie nicht mehr abzuschicken, ihre und Raouls Interessen kommen zur Deckung, wie die Kamera zeigt, aber nicht ganz, das wäre ja auch gelacht. Frau verliebt sich doch nicht in ihren pimp, und umgekehrt schon gar nicht. Eher tun das die Freier, die sind ja manchmal ganz süß. Aber dann mit ihm zusammenziehen wollen? Nein, das geht nicht, da macht Raoul nicht mit. Da hilft nur weiterverkaufen. Und beim geplanten Deal, der Übergabe, fehlt ein bisschen Geld, Nana erhält von jeder Seite eine schöne Kugel, das Ende. Noch ein paar Takte der schönen Musik von Michel Legrand, an der man sich nicht satt hören kann und die natürlich alles andere als brechtianisch verfremdend klingt, nein sie lullt ein, sie treibt einen in die heiligen Gefilde der melancholischen Bezirke, in denen der Klassenkampf Lokalverbot hat, ohne dass dieses Verbot laut ausgesprochen werden müsste, denn wo ist der würdige Gegner dieser Musik, die immer wieder an dieselben Orte zurückkehrt, wo alles, auch sie selbst, ihren Ausgang nahm?

 

Und warum dann überhaupt Brecht? Warum die sprechenden Rücken am Anfang, der sich aufhebende Brief, das Frage-Antwort-Spiel der Aufgaben und Rücksichten von Prostituierten, die Tafeln zu Beginn einer jeden Sequenz? Wie gesagt, Godard war nicht der einzige, auch Susan Sontag besetzte ihren Wohltäter mit aufklärenden Titeln, und alle sind sie befallen von den Viren, denen keiner sich entziehen kann, weil sie ein Teil des Austauschs sind, der eben nicht auch noch dazu kommt. Das passiert dann allenfalls später, wenn das meiste eh vergessen ist und man sich dann eben fragt, warum das so war. Zeitamalgam. Diskurslegierungen. Experimente mit offenem Ausgang. Und bei allem, Tributzahlung an das Gesetz des Kinos, das da sagt, dass kein Film sei, wo das Bild der schönen Frau gebricht. Woher nähmen auch sonst die wirklichen oder prätendierten Kinozertrümmerer ihre absolut unnachgiebige Forderung her, das Bild überhaupt zu zerstören und nichts mehr zu zeigen, zuletzt Derek Jarman, vor ihm unter anderem der göttliche Debord mit seinen hurlements für DAF de Sade, und dazwischen, ebenfalls mit Bezug auf Sade, Sollers, Sade als Hörspiel. Damit kann man keinen Staat machen, keine Hochzeit, keine Kinder. Schlauer Godard.

 

Dieter Wenk (12.00)

 

Jean-Luc Godard, Die Geschichte der Nana S. (Vivre sa vie), F 1962, mit Anna Karina u.a.