25. Juli 2005

Eile ohne Weile – zur Funktion der Hast

 

Mag sein, dass es schon etwas her ist, dass die Psychoanalyse ihre Zeit gehabt hat, aber um diese Zeit geht es in diesem Buch (eine Dissertation) nicht. Der Autor untersucht „Lacan und das Problem der Sitzungsdauer“, so der Untertitel, und diese Untersuchung verläuft so erfreulich unverkrampft und unprätentiös, wie man sie selten erlebt bei der Beschäftigung mit dem enfant terrible der französischen Psychoanalyse. Gleich am Anfang seiner Arbeit behauptet Langlitz, Lacan sei kein hermetischer Autor, und sieht man sich die Zitate an, die Langlitz auswählt, will man ihm das auch (fast) glauben. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung liegt in den 50er Jahren von Lacans Oeuvre mit einem kleinen, wenn auch bedeutenden Exkurs in die 40er Jahre, der Veröffentlichung von Lacans Aufsatz zur „logischen Zeit“. Natürlich hat Lacan auch schon in seiner früheren Zeit mit Schaubildern, optischen Schemata, Grafen und „Algorithmen“ gearbeitet, allein die hierfür nötige Re-Textualisierung zeigt ja bloß an, dass es sich bei diesen Hilfsmitteln eher um Abkürzungsverfahren und Erinnerungsmarken als um eigenständige Theoreme oder Erklärungen mit Selbstzweck handelt. Es geht also auch ohne diese der obskuren Tendenz Lacans leider eher förderlichen Arkana.

 

„Die Zeit der Psychoanalyse“ geht weniger textexegetisch als ideengeschichtlich vor. Der Leser wird also weniger durch neue und überraschende Interpretationen belohnt als durch Einsichten in Verbindungen, die vielleicht gerade dem medizinisch-psychiatrischen Hintergrund des Autors zu verdanken sind. Keine Frage, dass Heidegger für Lacan wichtig war, aber wie Langlitz Theoreme aus „Sein und Zeit“ (der Vorrang der Zukunft innerhalb der drei Zeitekstasen) mit dem vertrackten Sophisma aus „Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewissheit“ verknüpft und dieses Ensemble mit Lacans Überlegungen zur Rechtfertigung seiner berühmt-berüchtigten Kurzsitzungen in Verbindung zu bringen versteht, das hat man so noch nicht gelesen. Alleine dazu eingeladen zu haben, diesen Text aus dem Jahr 1945 erneut zu lesen, ist verdienstvoll. Denn diese dichte, also gar nicht barocke „Schrift“ ist aus anderen Gründen verwirrend als vieles, was aus Lacans Feder und Mund stammt.

 

Das Damit-nicht-zuende-kommen liegt einmal nicht in Lacans Schreiben und Reden, sondern ist der Sache inhärent. Lacan unternimmt hier nicht weniger als den Versuch einer neuen Logik, nämlich einer „kollektiven Logik“ mit deutlich zeitgeschichtlichem Hintergrund. Bei dieser Logik spielt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle. Man könnte von einer situationistischen Logik sprechen, bei der durch das Handeln – und zwar ein entschiedenes, Gewissheit antizipierendes Handeln – der Beteiligten ein Ergebnis erzielt wird, das erst nachträglich eine analytische Rekonstruktion erlaubt, über die die Handelnden in actu nicht verfügen, weil nicht alle Fakten bekannt sind. Lacan hat sich allerdings sehr bedeckt gehalten (wie er das eigentlich immer macht, wenn es spannend wird), wie er dieses Sophisma der drei Gefangenen, die gegeneinander und miteinander um ihre Freiheit kämpfen, für einen weiteren gesellschaftlichen Rahmen operationalisieren würde. Alleine die minimale personale Aufstockung der Beteiligten und die zunehmende Undurchsichtigkeit der Situation, die Lacan in einer Fußnote – durchaus nicht selbst-parodistisch – vorführt, lässt hier wenig hoffen.

 

Das Sophisma bietet eine wunderbare Gelegenheit, Heideggers „Vorlaufen“ zu demonstrieren, man hat aber doch Zweifel, die Gefangenen als „best-of“ einer „führerlosen Gruppe“ bezeichnen zu dürfen oder als ideale Kandidaten eines heideggerschen Existentialismus. Dazu ist diese Übung zu sehr eine Denksportaufgabe, die die empirischen Gegebenheiten wie unterschiedliche logische Fähigkeiten der Beteiligen oder das Aussetzen des Denkens aufgrund von Angst, die ja eigentlich ganz positiv sein soll in diesem Zusammenhang, aber wohl doch eher von einer gewissen „Brutalität“ kündet, von der Lacan selber in einem späteren Seminar sprach, völlig ausblendet. Wie auch immer man dazu stehen mag, Langlitz vermag seine These biografisch-zeitgeschichtlich anzureichern, indem er von Lacans Tätigkeit als Hilfsarzt in der Militärpsychiatrie während des Zweiten Weltkriegs berichtet, während der ihm ein Experiment bezüglich der „führerlosen Gruppe“ nicht entgangen sein konnte.

 

Entscheidend bei all dem ist jedoch, wie Langlitz Lacans zentralen Terminus der „Hast“ des Gefangenensophismas für seine Rechtfertigung der Kurzsitzungen fruchtbar macht. Schon um 1950 glaubte Lacan, dass es dem Patienten nicht unbedingt förderlich sein muss, auf dem zeitlichen Ruhekissen der standardisierten 45- oder 50-minütigen analytischen Sitzung auf sein Unbewusstes zu warten. Wenn das Unbewusste, wie Lacan meinte, wie eine Sprache strukturiert ist und wenn der Wiederholungszwang als neurotisches Krankheitsphänomen zu verstehen ist, dessen Kreislauf es aufzubrechen gilt, dann heißt es Techniken entwickeln, die es erlauben, das Unbewusste anders sprechen zu lassen, es in andere Skansionen zu verwickeln. Mit seinen Kurz- und (zunehmend) Kürzestsitzungen glaubte Lacan ein Mittel gefunden zu haben, die Behäbigkeit des signifikanten Sprachmaterials auf Trab gebracht zu haben. Es spricht, und es spricht um so besser und schneller, je ungewisser der zeitliche Rahmen abgesteckt ist, innerhalb dessen eine Botschaft überhaupt noch adressierbar ist oder nicht.

 

Ob diese schnelle Rede tatsächlich eine wahre Rede (oder „volle Rede“) im traditionellen Verständnis ist, scheint hier gar nicht so wichtig zu sein, Hauptsache, der Patient erhält die Möglichkeit einer Umschrift seiner festgefahrenen Geschichte, die ihn gewissermaßen aus der Zukunft erreicht, entwickelt aus einer Entscheidung aus „Hast“, die nichts weniger als einen neuen Anfang zu setzen erlauben können soll. Langlitz reichert diese Präsentation institutionengeschichtlich an, indem er einen Bogen schlägt von den Anfängen der Fixierung der Sitzungsdauer (Berliner Modell) bis hin zu den Abspaltungen nach Auflösung von Lacans eigener Schule. Außerdem überzeugt Langlitz in seiner Schilderung des Übergangs von Freuds bewusstseinsabhängigem psychischen Modell hin zu Lacans Engführung von Unbewusstem als Sprechmaschine und den virulenten kybernetischen Modellen der 50er Jahre. Auch wenn das natürlich nicht neu ist, so liefert Langlitz eine runde Sache ab, die vielleicht nur durch bewusste Ausblendung späterer Lacan’scher Theoriebildung zu haben ist.

 

Von diesem kompetenten Autor hätte man sich gewünscht, ob er in der Lage wäre, spätere Re-Thematisierungen wie eben das Gefangenensophisma in „Encore“, das in der Tat sehr kryptisch und durch Aufbereitung und Aufhellung vieler barocker Schichten kaum noch erkennbar ist, auf die neue Terminologie und Schwerpunktbildung (Bevorzugung des Realen vor dem Symbolischen) beziehen zu können. Es wäre wünschenswert, wenn Langlitz hier weiter machen würde. Man hat den Eindruck, dass dieser unverführte Blick mehr sieht als andere. Aber vielleicht musste er gerade deshalb dem seltsamen „Objekt klein a“ ausweichen.

 

Dieter Wenk (07.05)

 

Nicolas Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt 2005 (Suhrkamp, stw)