24. Juli 2005

Kurzsitzung schlägt Langprogrammierung

 

Natürlich ist Frau Shaw sauer, dass ausgerechnet ihr Sohn Raymond eine prominente Rolle in der kalten Verlängerung des heißen Kriegs spielt. Was sie nicht weiß: Es hätte noch viel schlimmer kommen können, und dann hätte vielleicht Ben (Frank Sinatra) Raymonds Rolle übernommen und diesem auf halluzinatorisch gegebenem Befehl eine Kugel in den Kopf getrieben. Und dann hätte sie gar nichts von ihm gehabt. So aber hat Raymond das Glück, in dem koreanischen Umerziehungslager ausführendes Organ sein zu dürfen. Das ist die altgriechische tychē, der Zufall, jedenfalls in der Lesart Lacans. Raymond alias Orest wird durch diese Wahl zugleich in eine zirkuläre Welt integriert, die Lacan, in Abgrenzung zur tychē, automaton nennt: In diesem Fall ist es die kybernetische Welt der Endlosschleife.

 

Vermittelst Drogen und Halluzinogenen wird Raymond und seiner Mannschaft ein bestimmtes Programm induziert, das durch bestimmte Anlässe (bei Raymond ein Kartenspiel) beliebig reaktiviert werden kann. Instantan wird die Wirklichkeit durch das automaton überlagert zwecks Determinierung einer zukünftigen Handlung. Was Frau Shaw also ihren Technikern und Helfershelfern vorwirft, ist, dass sie aus ihrem Sohn einen blöden Roboter gemacht haben. Raymond Shaw kommt als Held zurück nach Amerika, aber etwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Einige Soldaten seiner Truppe klagen über Albträume. In den Träumen zeigt sich Reales, das nicht in die Rede der Soldaten integriert wurde. Weil es ja vergessen werden sollte, als Programmierung von Seelen. Und die Programmierung zeigte eben keine Heldentaten, sondern einen Hörsaal, in dem kommunistische Generäle aussahen wie Hausfrauen und Todesbefehle gegeben wurden wie Aufforderungen zum handshake. Blind auswendig gelerntes erzeugt Gelächter oder Misstrauen. Ben kann nicht verstehen, warum man das Scheusal Raymond für einen guten Menschen halten soll, wie die manipulierten Soldaten unisono bekunden. Er hat andere Erfahrungen mit ihm gemacht. Als dann noch sein eigener Chef umgebracht wird, kommt Misstrauen auf. Zwar ist er noch weit davon entfernt, zu ahnen, dass hier linke Positionen von noch etwas weiter links stehenden Positionen überholt werden, aber Ben merkt, dass die Shaws eine seltsame Familie sind. Eine Mutter und ihr Stiefelknecht, ähnlich ferngesteuert wie ihr Sohn, nur ist dieser Mann so dumm, dass das auch bei vollem Bewusstein möglich ist.

 

Immer wieder bringt Mutter Shaw Raymond zum Kartenspielen, immer wieder erscheint die Karo-Dame, und immer wieder passiert ein Mord. Ben kommt dieser tödlichen Litanei auf die Spur und versucht, Raymond – methodisch analog zu Freuds Sprung über Breuers Halluzinogen-Programm durch die Bewusstmachung von Defekten und der genau dadurch bewirkten Heilung – die parasitäre Struktur des Sohn-Mutter-Schemas vorzuführen und ihn dazu zu bringen, nicht mehr Karten zu legen. Ein nicht getätigter Anruf von Raymonds Seite lässt befürchten, dass Bens Kurzheilung nicht funktioniert hat: Das automaton scheint in vollem Gang, Freud scheint widerlegt. Während also der zukünftige Präsident der Vereinigten Staaten vor der Nation sein Lippenbekenntnis ablegt, lauert der tödliche Mechanismus in einem versteckten Winkel und wartet auf das Zauberwort, auf dass Mutter Shaw, nach dem Attentat auf den Präsidenten, und ihr Maskottchen einen sensationellen rhetorischen Triumph feiern können, peinlichst ausgearbeitet in den dafür zuständigen Schaltstellen kommunistischer Unterwanderung. Nichts anderes als Moskau erwartet also Washington. Aber Orest bringt Freud wieder in Front, ein kleiner Schwenk mit dem Gewehr, und Moskau liegt danieder. Und was hat das automaton aufgelöst, welcher schöne Schmuck hat die Karo-Dame in die Hölle gejagt? Natürlich eine Frau, auch wenn diese zu dieser Zeit schon beerdigt war. Manchmal spielt Objekt klein a mit Toten. Im Guten wie im Bösen.

 

Dieter Wenk (07.05)

 

John Frankenheimer, Botschafter der Angst, USA 1962 (Manchurian Candidate)